CD-Kritik Tortoise: "TNT"

Knarzende Nebengeräusche: Die fünf Jungs aus Chicago haben merkwürdige Songtitel und seltsame Instrumente für ihre schwelgerischen Improvisationen.
Von Cristina Moles Kaupp

Die Musik von Tortoise hat das Potential, die Welt der Jazzhörer, Blues-Sympathisanten, Weltmusikfans, Easy-Listening-Freaks und Experimenthörigen auf den Kopf stellen. Wer je das Debütalbum "Tortoise" und das darauffolgende Meisterwerk "Millions Now Living Will Never Die" gehört hat, wartet sehnsüchtig auf ein Mehr von diesem Stoff.

Tortoise sei nur ein Zufallsprojekt gewesen, sagt der Bassist und Mitbegründer Doug McCombs, weil sich in Chicago alle ständig über den Weg liefen und jeder eigenen Projekten nachgehe. Und so wecken auch die Melodien der fünf Musiker Assoziationen, man wird hineingetaucht in ihren eigentümlichen Klangpool aus Marimba, Vibraphon, Baß, Gitarre, Schlagzeug, Percussions, Melodika, Sampler und Synthesizer. Der Trip führt durch die vermeintlich wohlgeordnete Konstellation aus Tradition und zufällig vorbeisegelnden Geschöpfen der Moderne. Und kein Gesang stört den Dialog der Instrumente.

Abgesehen von dem Remix-Intermezzo "Rhythms, Resolutions & Clusters" erscheint nun nach zweijähriger Pause das dritte reguläre Album "TNT". Es birgt den Sprengstoff, den der Titel verspricht. Knarzende Nebengeräusche, verstaubtes Rauschen, Hintergrundgeflüster gehören zur Klangpalette. Auf dem Eröffnungsstück versichert sich das Schlagzeug kurz, daß alles am richtigen Platz steht, Gitarren und Baß spielen sich mit kurzen Fingerübungen warm, dann beginnt es zu raunen und zu wispern. Ein Stück weiter, "Swung from the gutters", stört gar ein Geldspielautomat die Balance der Instrumente. Doch dann zieht das Rhythmusgerüst unvermittelt die Notbremse. Bei "Ten-day interval" erinnert die vielstimmige Gleichförmigkeit von Vibra- und Xylophon an Phillip Glass. Zeit verschiebt sich, Ideen laufen parallel, überholen sich, fallen wieder zurück, ein kurzes Intermezzo - das Piano wird Sieger. Das sonnige "I set my face in the hillside" ist schlicht und nachdenklich, ein schüchterner, fast träger Reigen, schon ist er verstummt, macht Platz für das elektronisch verfremdete "The equator" und dessen Anleihen bei den Siebzigern.

Rätselhafter denn je lauten die neuen Titel. "A simple way to go faster than light that does not work" schleppt sich minimalistisch und baßlastig durch Schattenwelten. Danach der lichtdurchflutete Trip zu "The suspension bridge at iguazú falls" und Improvisationen zu einer Rhytmusmaschine, Loops gesellen sich zu Percussion-Bass-Meditationen. Über eine Stunde lang dauert der Trip mit "TNT" durch zwölf Szenarien. Auch wenn die große Explosion beim ersten Hören auf sich warten läßt - "TNT" setzt auf die Langzeitwirkung -, haben McComb und seine Seelenverwandten es verstanden, das ganze große Leben in Klängen ausdrücken.

Tortoise: "TNT" (City Slang / EFA)

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