Zum Tod von Charlie Watts Der Jahrhundertschlagzeuger

Charlie Watts bei einem Stones-Konzert 2018 in Berlin
Foto:HAYOUNG JEON / EPA
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Diese Savile-Row-Anzüge, diese Stilsicherheit, dieser Haarschnitt, diese Grazie, diese Coolness. Charlie Watts, der Schlagzeuger der Rolling Stones, Zeit seines Lebens eine Stilikone, ist am 24. August 2021 gestorben. Seit fast 60 Jahren saß der schlanke Mann mit dem ausdrucksstarken Gesicht hinter dem vermutlich minimalsten Schlagzeug-Set-up, das sich je eine Band dieser Größenordnung über die Jahrzehnte erlaubt hat.
Damit entsprach Charlie Watts als gebürtiger Brite dem Ideal des klassischen amerikanischen Jazzschlagzeugers, der mit Basstrommel, Snare, zwei Toms und zwei Becken einen Laden in Harlem zum Kochen bringen kann. Tatsächlich kam Charlie Watts aus dem Jazz und spielte bis zuletzt auch in kleinen Jazzbands, wenn die Rolling Stones einmal nicht auf Welttournee waren.
— The Rolling Stones (@RollingStones) August 24, 2021
Mit seiner geschmeidigen Haltung, die weit über seine Körpersprache hinausging, seinem tiefen Wissen um die Spielarten des Jazz und seiner unfehlbaren Fähigkeit, Songs auch dann zum Swingen zu bringen, wenn er sich dem strengen, geraden Korsett des Rhythm'n'Blues unterwarf, gilt Watts als einer der größten Rock-Schlagzeuger der Musikgeschichte.
Das Fundament für Wood, Richards und Jagger
Während andere Rock-Bands – von The Grateful Dead über Guns'n'Roses bis Metallica – von ihren Schlagzeugern erwarteten, dass sie hinter ihren Schlagzeugburgen über die Shows verteilt virtuose, mitunter minutenlange Drum-Soli in ihr Spiel einpflegten, prägte Charlie Watts einen spröden Stil, der sich dem Konzept der Rolling Stones mit ihrem hyperaktiven Sänger Mick Jagger und den beiden Gitarristen Ron Wood und Keith Richards bei oberflächlichem Blick unterzuordnen schien.
Tatsächlich basierte die vermeintliche Einfachheit in Charlie Watts' Rhythmusverständnis auf einer Haltung, die den immer ähnlichen und – im Vergleich zum freien Jazz – limitierten Patterns des Rock eine hochkomplexe synkopische Dichte zu verleihen vermochte.
Charlie Watts lieferte gemeinsam mit den Bassisten Bill Wyman (bis zu dessen Ausstieg 1993) und seitdem Darryl Jones ein ebenso profundes wie verlässliches Fundament, das Wood, Richards und Jagger erst die Freiräume in ihrer Inszenierung schenkte.

Der Drummer
Hinter dieser demütigen, gleichwohl ungemein stolzen Haltung Watts' steckte ein der Tradition des Rhythm'n'Blues entwachsener Arbeitsethos, der das Fundament eines Grooves über die Dauer eines Konzerts stetig zu halten hatte. Immer spürbar war aber auch eine tiefe Liebe zur Blues-, Reggae- und Bebop-Musik vergangener Zeiten. Als Drummer benötigte Charlie Watts in der Regel nur Antäuschungen und Andeutungen von Rhythmusbetonungen, knappste Verweise auf das Spiel der Ahnen, dass sein Spiel auch im Rahmen minutiös choreografierter Stadionkonzerte der Rolling Stones stets unberechenbar im immer Berechenbaren blieb.
Dieser Jahrhundertschlagzeuger zeigte sein Können aber auch auf sämtlichen Studioaufnahmen der Band der vergangenen knapp sechs Jahrzehnte. Das Album »Dirty Work« der Rolling Stones aus dem Jahr 1986 mag unter Fans der Band als hässliches Entlein unter den Studioveröffentlichungen gelten. Auf kaum einer anderen Platte der Rolling Stones aber kommt Watts' aus einer endlosen Aneinanderreihung von Auslassungen zu bestehen scheinendem Spiel eine so tragende Rolle zu wie auf »Dirty Work«. Auf diesem Album finden sich schroffe Rhythm'n'Blues-Nummern (»One Hit (To the Body)« neben deepen Reggae-Cuts (»Too Rude«), verschleppten Balladen (»Sleep Tonight«) und mit »Back to Zero«, »Harlem Shuffle« und »Winning Ugly« sogar drei Stücke, die sich souverän dem unterkühlten Discorock-Dancefloor der Achtzigerjahre näherten. Den genreübergreifenden Stücken ist gemein, dass sie von Charlie Watts virtuos vorangetrieben, verdichtet und gegen alle Gesetzmäßigkeiten dekonstruiert wurden.
Exakt drei Jahrzehnte später spielte Charlie Watts 2016 auf dem bis heute letzten Studioalbum der Rolling Stones, »Blue & Lonesome«, mit 76 Jahren Schlagzeug, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Es ist ein Spiel der bewussten rhythmischen Untertreibung, das freilich die Blues-Nummern des Albums überhaupt erst zum Swingen bringt. Es spielt derselbe Drummer, zwar um Jahrzehnte gealtert, aber mit derselben Grazie, abermals druckvoll, treibend, verdichtet und den Beat gegen alle Gesetzmäßigkeiten dekonstruierend, dabei immer der Band dienend.
Wüsste man es nicht besser, man könnte schwören, dass da ein anderer Schlagzeuger spielt, so geerdet im stoisch-repetitiven Blues ist das Spiel von Charlie Watts. Kein Vergleich zu der kalten, funkig-aufgekratzten Heroin-Abgeklärtheit von »Dirty Work«. Der Schlagzeuger hätte auch in den Bands von Muddy Waters oder Lightnin' Hopkins eine Bella Figura gemacht und das Fundament der Musik geliefert und mit seinem zum Markenzeichen gewordenen Stempel des Minimalismus versehen. Gelebtes, zum Stil gewordenes Musikwissen.

Reaktionen zum Tod von Charlie Watts – »Ein Held ist von uns gegangen«
Über die Jahrzehnte vermochte es Charlie Watts mit der Verlässlichkeit eines Uhrwerks, dem Millionenunternehmen Rolling Stones ein belastbares Rückgrat beizusteuern, das die Band auch jene Phasen mit einem blauen Auge überstehen ließ, in denen sie ausgebrannt schien und berechenbare Greatest-Hits-Shows in Fußballstadien ablieferte. Tatsächlich gehören die Rolling Stones seit den Siebzigerjahren zu den an einer Hand abzählbaren Bands, die zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere mühelos Hunderttausende Zuschauer zu ihren Konzerten ziehen konnten.
»Ausnahmsweise hat mein Timing dieses Mal nicht gestimmt«
Es hätte im Grunde also ewig so weitergehen können. Bereits in den frühen Neunzigern hatten die Rolling Stones den Vorwurf ignoriert, dass der Rock ein Ausdruck von Jugendkultur zu sein habe. Die Musiker wurden einfach immer älter. Erst vor wenigen Wochen kündigten die Rolling Stones an, ihre wegen der Coronapandemie unterbrochene »No Filter« Tour durch die USA am 26. September in St. Louis wieder auf die Straße zu bringen.
Aufgrund einer unaufschiebbaren, aber ohne weitere Komplikationen verlaufenen Operation sah sich Charlie Watts allerdings auf Anraten seiner Ärzte zu einer Auszeit gezwungen, weshalb er seine Teilnahme an der Tour absagte – und diese mit dem selbstironischen Statement würzte: »Ausnahmsweise hat mein Timing dieses Mal nicht gestimmt.« Nach vollständiger Genesung beabsichtige er jedoch, den Interims-Drummer Steve Jordan wieder abzulösen.
We’re sure you’ll all join us in wishing Charlie a speedy recovery.
— The Rolling Stones (@RollingStones) August 5, 2021
All 2021 tour dates will go ahead as planned. pic.twitter.com/8OgOIEwHWq
Dazu wird es jetzt nicht mehr kommen. Vermutlich werden die Rolling Stones im September und Oktober eine Serie sehr emotionaler Konzerte geben, in deren Zentrum die Anwesenheit einer Abwesenheit strahlen wird. Die Welt hat einen Gentleman unter den Drummern, einen nur im Privaten leisen Giganten verloren, der es ein halbes Jahrhundert lang geschafft hat, eine Herde von Alphatieren vor sich herzutreiben.
Sein Tod hinterlässt einen tiefen, vielleicht unüberbrückbaren Riss in einer Kontinuität, die Legionen von Fans längst für selbstverständlich genommen zu haben schienen. Die Lücke ist so groß, dass es – bei allen Qualitäten Steve Jordans, die er nicht zuletzt als Schlagzeuger in Keith Richards Seitenprojekt The X-Pensive Winos zeigt – nicht verwundern würde, wenn der Abgang von Charlie Watts auch die Dämmerung der größten Rock-Bands aller Zeiten einläutete.
Dachten wir wirklich, haben wir wirklich geglaubt, Charlie Watts würde ewig leben?