Abgehört - neue Musik Schwestern machen sich frei
Ibeyi - "Ash"
(XL Recordings/Beggars, ab 29. September)
"I carried this for years", singen Lisa Kaindé und Naomi Diaz alias Ibeyi zur Eröffnung ihres zweiten Albums "Ash", als wollten sie sich, beflügelt von den Stimmen des Chors Le Mystere Des Voix Bulgares, von einer Last befreien. Ob die Last der Vergangenheit, Thema ihres Debüt-Albums von 2015, oder die Last des Erfolgs, ist schwer zu sagen. Ibeyi, in Paris lebende Töchter des verstorbenen Buena-Vista-Social-Club-Percussionisten Anga Diaz und der venezolanischen Sängerin Maya Dagnino, wurden von XL-Recordings-Gründer Richard Russell entdeckt, der auf "Ash" erneut als Produzent in Erscheinung tritt.
Die beiden Musikerinnen, die mehrsprachig singen und traditionelle afro-kubanische Instrumente wie die Cajón spielen, wurden in der Coffeeshop-Blase schnell zu Live-Ereignissen und Poster-Girls einer attraktiven, gefühligen-geschmeidigen Weltmusik. Zum vorläufigen Höhepunkt durften sie in Beyoncés "Lemonade"-Film auftreten - als schöne Statistinnen.
Mit "Ash" geht es für Ibeyi also nun darum, sich abseits von Images, Symboliken und Kitsch als Künstlerinnen zu verstetigen. Das gelingt zum Teil. Der Entlastungswunsch des Eröffnungsstücks wird im wunderbaren, Yoruba-getriebenen "Away Away" fortgesetzt: nach Erlösung sehnende Choräle und Trommeln zu im Hintergrund dräuenden Polizeisirenen. "Deathless", garniert mit dem Saxophon-von Jazz-Erneuerer Kamasi Washington, schließt nahtlos an. Der Song beschreibt die Erfahrungen mit Polizeigewalt gegen Dunkelhäutige, die Lisa einst bei einer Verhaftung in Paris erlebte. Der trotzig mehrstimmig gerufene Refrain "We are deathless" ist als Manifest der Furchtlosigkeit zu verstehen.
Nachdem sie sich auf ihrem Debüt mit ihrer Herkunft und Familiengeschichte beschäftigt haben, sind Ibeyi in der tristen Wirklichkeit von Alttags-Rassismus, gesellschaftlicher Spaltung und von Polit-Populisten geschürten Ängsten angekommen. Als musikalisch wie ethnisch multikulturelles Pop-Projekt versuchen sie, den richtigen Sound zwischen Melancholie und Ermutigung zu finden.
Das entgleitet immer dann ins Seichte, wenn sich die stilistischen Eigenheiten des Duos im allzu fröhlichen Neneh-Cherry-Pop von "I Wanna Be Like You" auflösen oder in absurd-nachdenkliche "Despacito"-Gefilde münden ("Me Voy" feat. Mala Rodriguez). Auch stellt sich die Frage, ob längliche Teile einer Michelle-Obama-Rede wirklich als wirksame Elemente eines emanzipatorischen Pop-Songs taugen ("No Man Is Big Enough For My Arms").
Am stärksten sind Ibeyi, wenn sie sich auf die suggestive Kraft ihrer sparsamen, nur durch Stimmen und stimmungsvoll gesetzte Sounds atmenden Besinnlichkeiten konzentrieren, wie in "Numb" (Björk lässt mal wieder grüßen), im schönen "Waves" (ausnahmsweise von Naomi gesungen) oder im gemächlichen, sieben Minuten lang Blues "Transmission/Michaelion", in dem dann auch das gesprochene Frida-Kahlo-Zitat nicht weiter stört. Das wütende, druckvoll getrommelte "When Will I Learn" (mit Chilly Gonzales) zeigt dann eindrucksvoll kurz vor Schluss, wie Pop-Appeal und Ibeyi-Exotik sich doch noch effektvoll vermählen lassen. Die große Befreiung, von historischer Asche und all den anderen Lasten, ist nur noch eine Frage der Zeit. (8.0) Andreas Borcholte
Protomartyr - "Relatives in Descent"
(Domino/Goodtogo, ab 29. September)
Rockmusik hat an dieser Stelle oft einen schweren Stand. Und das mit Grund: Das Genre ist nun mal in der Masse furchtbar alt, männlich, weiß und heterosexuell - und damit - scheinbar - meilenweit vom state of the art des Jahres 2017 entfernt. Was allerdings nicht stimmt: dass Gitarre, Bass und Schlagzeug per se nichts mehr zu sagen hätten.
Das beweisen etwa Protomartyr aus Michigan. Das Quartett spielt so etwas wie die Fanfare zur Beerdigung des alten westlichen Selbstbilds: Ihr grandioses zweites Album "Under Color Of Official Right" porträtierte 2014 Amerikas insuffizientes Herz namens Detroit in einem Sittengemälde mit pastosem Strich und dunkler Farbpalette.
Der Nachfolger "The Agent Intellect" widmete sich 2015 dann dem Symptomkatalog der Betroffenen: Angst, Aggression, Alkohol, Ausweglosigkeit. "There's no use being sad about it, what's the point of crying about it", konstatierte Sänger Joe Casey, Typ besoffener Englischlehrer, etwa in "Pontiac 87" - und drückte damit die Resignation einer ganzen Klasse aus. Und mal ehrlich: Wie könnte man das alles besser vertonen, als mit Gitarrenwänden, die in Wallung geraten wie der Blutdruck eines Panikpatienten?
Das Problem: Die Möglichkeiten dieses Stils sind beschränkt, wie das vierte Album "Relatives in Descent" zeigt. Dabei machen Protomartyr nichts wirklich falsch: Die Band klingen darauf immer noch besser als ihre aktuelle Postpunk-Konkurrenz, und auch Caseys Zeitdiagnostik hat keinen Schaden genommen. Im starken "Male Plague" etwa bricht er nonchalant den gegenwärtigen Zustand Amerikas auf toxische Männlichkeit herunter. Auch die bittere Einsicht in "The Chuckler" zieht: "I guess I'll keep on chuckling/ 'Til there's no more breath in my lungs."
Auf ganzer Länge klingt "Relatives in Descent" jedoch wie ein Remix vergangener Erfolge - und zeichnet damit frappierend genau das Schicksal von Gitarrenmusik als Ganzes nach: Die Geschichte ist erzählt, der Zenit überschritten, die Pointen angestaubt. Als Momentaufnahme einer kaputten Gegenwart funktioniert das, klar. In die Zukunft führen aber andere. (7.0) Dennis Pohl
Chelsea Wolfe - "Hiss Spun"
(Sargent House, seit 22. September)
Nicht nur Männer machen Rock, aber machen Frauen irgendetwas besser? Chelsea Wolfe hat sich in den vergangenen Jahren von einer bleichen Goth-Folk-Schmerzensfrau in eine Black- und Doom-Metal-Ikone verwandelt. Den bisherigen Höhepunkt dieser interessanten Metamorphose von leise zu laut markierte ihr buchstäblich abgründiges letztes Album "Abyss", mit dem sich die chronisch schlaflose Kalifornierin auch ein Publikum abseits ihrer angestammten Genres erschloss.
"Hiss Spun" dringt nun weiter in Lärmwelten hinein, macht aber zugleich einen Schritt rückwärts, zurück zu Songstrukturen und melodischen Zwängen, die Wolfe schon bereitwillig hinter sich zu lassen schien. Grund für diese völlig unnötige Annäherung an Rock-Konventionen mag ihr neuer Gitarrist Troy Van Leeuwen (ehemals Queens of The Stone Age) sein, der Wolfes Sound gleich in den ersten beiden Stücken von "Hiss Spun" mit bratzender Stoner-Verharzung alles Ätherische und Transzendente austreibt.
Besser wird es danach nicht: "Vex" irrlichtert zwischen Wave-Synthies und brachialem Metal-Männer-Gegröhle; "Strain", "The Culling" und "Particle Flux" sind Belege dafür, dass es gar nicht so gemein und unfair ist, Chelsea Wolfe in ihren miesesten Momenten in die Nähe von Emo-Unmöglichkeiten wie Evanescence zu rücken. Erst gegen Ende, wenn man von Pathos-Dampframmen wie "Offering" eigentlich schon zu sehr an die Wand geplättet ist, bekommen die Songs plötzlich Luft zum Atmen und Rauschen.
"Static Hum" und "Welt" lösen das kathartische Noise-Versprechen von "Abyss" ein, "Two Spirit" mäandert sich mit Wolfes heiserer Elfenstimme durch ein Waldlabyrinth der Ambivalenzen. Das kratzbürstige von "Scrape" braucht man dann, um sich den ganzen klebrigen Bombast wieder abzuschrubben. Im Abgrund war's schöner. (5.0) Andreas Borcholte
Cold Specks - Fool's Paradise
(Caroline/Universal, seit 22. September)
Alles auf Null: Auf "Fool's Paradise" wagt die Somali-Kanadierin Ladan Hussein alias Cold Specks einen radikalen Schnitt. Sie tritt Folk-Gitarren, Gospel-Blues und verspulte Free-Jazz-Ausflüge in die Tonne und macht musikalisch Tabula rasa. Das kann man ruhig wörtlich nehmen, ihr drittes Album klingt nämlich wie ein vertonter Operationssaal: ziemlich keimfrei, ein Ort handwerklicher Präzision, die Person im Zentrum sediert. R&B an der Herz-Lungen-Maschine.
Für Hussein schien der Neustart praktisch unumgänglich, um sich aus einer Sackgasse zu befreien. Ihr 2012 erschienenes Düsterfolk-Debüt "I Predict A Graceful Expulsion" klang trotz eindrücklicher Stimme seltsam hüftsteif, die Gitarren mäanderten verlässlich ins Nirgendwo, zündende Ideen suchte man vergebens. Die landeten dafür auf dem Nachfolger "Neuroplasticity", allerdings zu einem seltsamen Breitwand-Sound aus Jazz, Blues und Postpunk aufgepumpt - mit dem Ergebnis, dass einen das Album zwar ansatzlos umföhnte, aber wenig Raum ließ.
Platz gibt es nun reichlich. Den nutzt Hussein, um sich Feinheiten zu widmen: Der schwierigen Frage nach der eigenen Identität etwa. Die schwarze Muslima, die in Toronto aufwuchs und Somalia nur aus Erzählungen kennt, stellt sich auf "Fool's Paradise" über zehn Songs hinweg offensiv der eigenen Herkunft.
Das tat sie zwar auch schon auf den beiden Vorgänger-Alben, aber nie mit solchem Nachdruck: Sie singt abwechselnd auf Somali und Englisch, bezieht sich dabei immer wieder auf Araweelo, eine Männer kastrierende Terror-Königin aus der somalischen Folklore, und geht auf die stille Angst in der Diaspora ein: "They don't know 'bout you/ Better move carefully", singt sie mit beklemmender Paranoia im Album-Höhepunkt "Void".
In solchen Momenten ist "Fool's Paradise" ein berührendes, emanzipatorisches Album. Songs wie "Fool's Paradise", "Void" oder der Schlusspunkt "Exile" sind starke Innenansichten, bei denen keine Nebensächlichkeiten das Bild trüben: Nicht distinguierte Instrumente oder Produktionskniffe stehen im Zentrum, sondern die persönliche Erfahrung. An anderer Stelle merkt man jedoch, dass Hussein noch in der Findungsphase steckt. Dann gleitet ihre neue Unterschwelligkeit in einen etwas schnarchigen Chill-out-R&B ab, der wenig mit Königin Araweelo zu tun hat - sondern eher mit dem Achtsamkeitsseminar um die Ecke. (6.5) Dennis Pohl
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)