Zum Tod von Chick Corea Ein sanfter Teufelskerl

Jazzmusiker Chick Corea (2014)
Foto: Christian Escobar Mora / dpaMiles Davis war sauer in den späten Sechzigerjahren, weil Jimi Hendrix, James Brown oder The Byrds erfolgreicher, auch interessanter waren als er. Jazz hatte keinen Stich mehr gegen Rock, Soul oder Funk. Der Pianist Armando Anthony »Chick« Corea, US-amerikanischer Enkel süditalienischer Einwanderer, half Davis entscheidend beim Übertritt in die neue Zeit. Sein E-Piano, das Fender Rhodes, prägte die ersten elektrischen und freieren Alben des Meisters, besonders den Welterfolg von 1970: »Bitches Brew«.
Da war Corea schon 29 Jahre alt und ein gereifter Musiker. Doch es gelang ihm als Bandleader noch mehrmals in seiner langen Karriere, das Jazz-Game zu verändern: Als Türöffner für Latin Music, für den Jazzrock oder Fusion, für den Crossover zur Klassik – und doch wischte er die Tradition des Bop nie vom Tisch. Mit Corea, der nun im Alter von 79 Jahren einem Krebsleiden erlag, stirbt ein großer, amerikanischer Innovator.
Bei aller Wandelbarkeit hörte man seinem Tastenanschlag an, woher er kommt. Erstens aus der Klassik: Wie sein Bandkollege bei Miles Davis, Herbie Hancock, fand auch Corea über klassischen Klavierunterricht zum Jazz. Zweitens von der Latin Music, von afrokaribischen und südamerikanischen Rhythmen. Corea, 1941 in der Nähe von Boston geboren, spielte in den frühen Sechzigerjahren in der Band des Perkussionisten Mongo Santamaría, jenem Afrokubaner, der 1965 mit Hancocks »Watermelon Man« einen Smash Hit hatte. Die andern Bandleader seiner Lehrjahre waren Dizzy Gillespie und Stan Getz, beide mit einem Ohr für die südamerikanischen Traditionen.
Corea spielte hart auf dem Beat, verband wenig zum Legato. Er schlug die Noten wie gerade Nägel ein, allerdings sehr schnell, wenn es sein musste (es musste oft sein). Diese virtuose Tendenz zur straighten statt zur ständig swingenden Phrasierung verrät die Klassik und den Latin-Sound, der nicht in Triolen hängt, sondern in Vierteln, Achteln und lässig vertrackten Metren groovt, bis einem so leicht im Kopf wird wie nach einem Pisco Sour. Dieses Delirium kommt den beginnenden Siebzigerjahren gerade recht, die im elektrifizierten, dank Corea auch latinisierten Jazzfunk eine pulsierende, globalisierte Zukunft vorausahnen.
Return To Forever hieß Coreas Band ab 1971, aus der viele Jazzstars hervorgehen. Stanley Clarke an den Bässen, Gitarrist Al Di Meola, und auf den ersten beiden Alben das brasilianische Ehepaar mit der Sängerin Flora Purim und dem Schlagzeuger und Perkussionisten Airto Moreira. Einige Songs aus dieser Zeit wurden Jazzstandards, etwa »Spain« und »500 Miles High«, eher Suiten als Songs. Am Mittelteil von »Spain« scheitern noch heute Jazzschüler*innen am Krampf, während Corea auf dem E-Piano, Clarke am Bass und Joe Farrell an der Flöte die vertrackten Akzente unisono und so locker spielten, als sei das alles tanzbar.
Erst nach dieser Phase stieg Corea vom Klavier und E-Piano auch auf Synthesizer um. Der Funk, die Zackigkeit, die Muskeln, die Komplexität: Es ist die Dämmerung des Fusionjazz, die oft pauschal als pure, onanistische Kraftmeierei so moralisch verunglimpft wird wie die Selbstbefriedigung von der katholischen Kirche. Sicher, Fusion wird in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine Musik für Spezialist*innen, der Anspruch, in die großen Popmärkte vorzudringen, war ein kurzer Traum der Grenzüberschreitung. Aber selbst, wenn man einem Technikmonster wie Schlagzeuger Dave Weckl bei Corea zuhört, bleibt die schiere Freude an der Komplexität hörbar, die kollektiv klingt und nie wie ein einsamer Cumshot. Für harten Jazzporno waren Coreas Projekte einfach zu verspielt.

Chick Corea bei den Grammy Awards im Januar 2020
Foto: Mario Anzuoni / REUTERSWie alle wirklich großen Jazzpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts verlor Corea nie das Gespür für einen der vielen Ursprünge dieser Musik: die einfache Melodie, die es dann weit und offen zu variieren galt, ohne sie je ganz aus dem Ohr zu verlieren. Schon mit Return To Forever spielt er 1972 seinen »Children’s Song«. Für das Münchner Label ECM nahm er 1984 ein ganzes Album mit 20 dieser vermeintlichen »Kinderlieder« auf, wo viel zusammen kommt: die klare Idee, die fast strenge Variation und Form der Klassik, die harmonische Avanciertheit des Jazz. Es sind Miniaturen, jeweils unter zwei Minuten lang – Material, das man auch seiner leider nicht immer Jazz-affinen Umwelt im Wohnzimmer vorspielen kann.
Ebenfalls auf Manfred Eichers ECM-Label erschienen die drei Alben, die Corea ab 1972 im Duo mit dem Vibrafonisten Gary Burton einspielte. Mit Fusion, Funk oder Rock haben diese Kooperationen, obwohl zeitgleich, nichts zu tun. Auf diesem hohen Niveau der musikalischen Kooperation sind Stile oder Zeitdiagnosen überflüssig, es sind Alben, die gestern oder vor hundert Jahren entstanden sein könnten. Das macht sie zum einen schön, zum anderen etwas kalt: Da oben ist es ziemlich einsam und die Welt weit weg.
Trotz der beruflichen Verbindungen nach München war Corea in Deutschland nicht immer ein gern gesehener Gast. Der Grund: seine Mitgliedschaft in der Scientology-Kirche, die in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet wird. In Stuttgart hätte Corea 1993 im Rahmenprogramm der Leichtathletik-WM spielen sollen, wurde jedoch von CDU-Ministerpräsident Erwin Teufel wieder ausgeladen, weil er ein »Propagandist der Scientology-Sekte« sei. Die US-Botschaft protestierte, Coreas Agentur schrieb damals: »Heute ist es Chick Corea, morgen vielleicht ein Jude, ein farbiger oder schwuler Musiker«.
In Bayern geriet drei Jahre später die CSU in einen internen Streit, weil der Sektenbeauftragte ein Konzert von Corea verhindern wollte. Kultusminister Hans Zehetmaier schimpfte, die Forderung seines Parteigenossen sei der »klein karierte Ruf nach einer Kulturpolizei«. Die CSU als Vorläuferin der Cancel Culture? Für manche wohl überraschend.
Corea, der Ende der Sechzigerjahre durch die Science-Fiction-Romane und Vorträge des Sektengründers L. Ron Hubbard zu Scientology fand, kommentierte die Kontroverse 2015 in der »Neuen Zürcher Zeitung«: »Ich weiß, dass ich manchmal für dieses Engagement angefeindet werde. Ich nehme es hin. Ich bin den Lehren von Ron L. Hubbard verpflichtet. Deshalb danke ich ihm auch jeweils in den Liner Notes meiner Alben. Aber ich bin kein Prediger. Ich lasse jedem seine Überzeugung. Auf der Bühne spiele ich einfach nur. Da habe ich nie missioniert.«
Chick Corea tourte sein Leben lang, in Berlin war er letztmals 2018 zu Gast, in einer Kirche spielte er auch einige der »Children’s Songs«. Jede seiner Schaffensperioden, die manchmal nebeneinander existierten, nahm er in späteren Jahren wieder auf. Akustisch, elektrisch, fein, hart und natürlich auch swingend, denn selbst das konnte dieser sanfte Teufelskerl. Sein klarer, deutlicher Anschlag kommt aus einer Zeit, als die Zukunft noch Konturen hatte.