Album der Woche mit Christin Nichols Aber hier leben? Na gut.

Sieben Euro und eine geballte Faust in der Tasche: Das Solodebüt der Berliner Schauspielerin Christin Nichols ist alles andere als ein Eitelkeitsprojekt – unser Album der Woche. Und: Neues von John Mellencamp.
Musikerin Christin Nichols

Musikerin Christin Nichols

Foto:

Kay Ruhe / Freudenhaus Recordings

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Album der Woche:

Christin Nichols – »I'm Fine«

Vor Schauspielerinnen, die ins Gesangsfach drängen, sollte man sich gemeinhin eher hüten: Entweder geraten die musikalischen Versuche allzu seicht oder arg kunstsinnig. Bei Christin Nichols ist das zum Glück ganz anders. Mit »I'm Fine« hat die 35-jährige Wahlberlinerin jetzt ihr Debütalbum herausgebracht, ein aufregend gitarrenpralles Testament der Miesgelauntheit – alles andere als ein schöngeistiges Eitelkeitsprojekt.

Die im ostwestfälischen Bünde geborene Absolventin der Schauspielschule Ernst Busch war im Film »Fucking Berlin« zu sehen, in der ARD-»Eifelpraxis« und in der queeren Serie »All You Need«, Theater spielte sie unter anderem an der Berliner Volksbühne und am Schauspiel Leipzig. Schon seit Jahren steckt Nichols allerdings auch viel Leidenschaft in die Musik. Bisher war sie Sängerin des Elektropunk-Duos Prada Meinhoff, doch ihren männlichen Partner legte die zweisprachig singende Deutsch-Britin nun ab, um während des Corona-Lockdowns ihre eigene Pop-Version zu verwirklichen.

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Den gesellschaftlich provokanten Gestus ihrer früheren Band behält sie bei, legt zu nun handgemachterer Musik (unter anderem mit Teilen von Isolation Berlin) jedoch auch privatere Zweifel und Abgründe offen. »Ich möchte, dass es euch schlecht geht, so schlecht wie mir«, singt sie in ihrer von Geldmangel und Antriebslosigkeit erzählenden Rockhymne »Sieben Euro Vier«. Sie habe kein Auto und keine Perspektive, »ich hab' kein Haus und ich hab' keine Liebe. Ich hab' auch keinen Sex-Appeal und keinen Verkehr«, nölt sie gegen eine Gitarrenwand, Siouxsie Sioux und die Riot Grrls der Neunziger als Referenzkulisse.

Aber egal, ob sich Nichols zu Beginn sehnsüchtig nach »Malibu« dreampopt oder zum Schluss schreiend »Endstation Bielefeld« konstatiert, ist ihr Duktus nie larmoyant, sondern, sehr britisch, tongue-in-cheek. Etwa wenn sie im englisch gesungenen Titelstück eine Spoken-Word-Passage einfügt, in der sie lakonisch erzählt, dass sie vielleicht nach Vermont ziehe. Sie sei in dem US-Ostküstenstaat zwar noch nie gewesen, stelle sich aber vor, dass sie dort ihr Glück finden könnte. Doch wird sie wirklich gehen, dahin, wo das Gras vermeintlich grüner ist, der Indian Summer goldener und wärmer, die Häuser puppenstubiger als im grauen Berlin? Ja, nee: »I love making plans, but I know... I'll never go«. Die realen Gegebenheiten mögen zwar nicht perfekt sein, doch was soll man machen? »I'm fine«, das heißt auch so viel wie: Aber hier leben? Na gut.

Zu zackigen Post-Punk-Grooves, New-Wave- und Neue-Deutsche-Welle-Zitaten beschreibt Nichols mit rhetorischer Schärfe und griffigen Slogans ein trotzig-prekäres Lebensgefühl, zerrissen zwischen Ehrgeiz und Ekel vor den Instagram-Posen des Berühmtseins (»Fame«). Im feministisch grundierten »Today I Choose Violence« rezitiert Nichols sexistische Sprüche, die von Männern, aber auch von eifersüchtigen, patriarchalisch infizierten Frauen stammen können, Gifteleien wie »Für 'ne attraktive Frau bist du echt ganz clever« oder »Ich find's echt mutig, dass du dich mit dem Körper auf die Bühne traust« – und ballt gewaltbereit die Faust in der Tasche: »I make a fist in my pocket with my hand«.

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Christin Nichols

I'M Fine

Label: Freudenhaus Recordings (Rough Trade)
ca. 12,32 €

Preisabfragezeitpunkt

06.06.2023 08.09 Uhr

Keine Gewähr

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Gewaltig ist aber vor allem das Hit-Potential ihrer Songs. Sie ziehen ihren Charme und ihre Stärke aus einem zeitgeistigen Sound und der immer auch selbstironischen Brechung des gerade allgegenwärtigen Missmuts. She'll be fine. (7.9)

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Kurz abgehört:

John Mellencamp – »Strictly A One-Eyed Jack«

»I'm a man that worries, you better get out of my way«, krächzt John Mellencamp auf seinem 25. Album, dem ersten mit neuer Musik seit 2017. Der 70-jährige Kettenraucher aus Indiana, ein verlässlich sozialromantischer Bernie Sanders des Heartland-Rock, klingt jetzt wie der junge Tom Waits oder der alte Bob Dylan, je nach Gusto. Jedenfalls ist der »Cougar«, den Mellencamp einst als Mittelnamen trug, ziemlich grau geworden. Griesgrämig und desillusioniert tapert er durch brüchigen, akustischen Folkrock mit Ziehharmonika, Fiddle und Zischelperkussion, und selbst, wenn er am Horizont einen Regenbogen der Hoffnung sieht, besteht er darauf, im Niesel zu verharren. Wenn Bruce Springsteen ihn begleitet, in zwei Songs, wird's ein bisschen lebhafter. Immerhin. Get a leg up, man! (7.0)

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Liz – »Mona Liza«

Und jetzt alle: »Null-sechs-neun Mona Liza!« Der Schlachtruf dieser 23 Jahre alten Straßenrapperin aus Frankfurt am Main rammt schon mal brutal die Ellenbogen in die Gehörgänge. Liz tritt auf ihrem Debütalbum an, den Machos, Mackern und Mimosen im Rap-Game das Fürchten zu lehren, indem sie lakonische Bahnhofsviertelgeschichten aus gnadenlos weiblicher Perspektive erzählt. Milieu-Patin Schwesta Ewa unterstützt diese »Skyline Stories« über Dealer und Nutten, Koksexzesse und Abstürze als Gastrapperin. Dass Liz ihren lässigen Flow bei aller Härte aber auch in Pop-Appeal verwandeln kann, zeigt sie in Hymnen wie »Allein sein« und schön unverschämt im schwingenden »Bruder Yallah«, wo sie schon mal als »Lizzy Elliott« und »Lizzy Minaj« auftritt. Die Hessen-Babos bibbern. (7.5)

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Jana Horn – »Optimism«

Optimismus ist ja ein zartes, kümmerliches Küken dieser Tage, und deshalb ist das Debüt von Jana Horn sehr adäquat betitelt, auch wenn es zunächst so desolat und karg klingt wie kaum ein anderes Folk-Album der jüngeren Zeit. Man könnte Horn und ihre auf wenige Akkorde reduzierten Song-Skelette zusammen mit Codeine und den frühen Low ins Slowcore-Genre einordnen wollen, aber statt in Zeitlupen-Drones zu verhallen, stellt die literatur- und bibelfeste Texanerin eine betörend klare, manchmal an Suzanne Vega erinnernde Erzählstimme in den Vordergrund – meisterlich in »Jordan«, dem zentralen Stück, in dem das wilde, hoffnungsvolle Herz dieser Musik pocht. (7.7)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

Abgehört im Radio

Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM  ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).

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