Countertenor Alfred Deller LSD zum Hören

Er erfand den Stimmbalsam im Schallplatten-Zeitalter neu: Alfred Deller lüftet auf einer DVD das Geheimnis seines narkotischen Countertenors - des besten aller Zeiten.
Von Kai Luehrs-Kaiser

Der Herr trägt Rosenwasser im Haar. In Kniebundhosen und Cordjackett tritt er uns mit der lässigen Feierlichkeit eines Schlossverwalters entgegen. Wenn er die Lippen schürzt, muss man ein wenig über die schiefen Zähne lachen. Auf der DVD, die sein Lebenswerk feiert, deutet er mit schwärmerischer Handbewegung weit, weit in die Landschaft, durch die er gemächlich in einer Kutsche fährt.

So altbacken rückwärts gewandt würde sich heute kein Klassik-Star mehr in die Öffentlichkeit trauen. Doch Alfred Deller (1912-1979), der wohl größte Countertenor von allen, unterwarf sich keinerlei Markt- oder Imagezwängen.

Er passte in kein Schema, denn die Reihe der Countertenöre, die heute endlos ist, wurde von ihm eröffnet. Er besaß Vorbilder bestenfalls in Gestalt jener Kastraten, von denen der letzte, Alessandro Moreschi, schon 1922 gestorben war.

So wurde Deller, der in den späten vierziger Jahren begann und bis zu seinem Tod zahllose Platten aufnahm, zum vorbildlosen Idol von Generationen jüngerer Countertenöre - die indes alle nicht die narkotische Intensität, jenes geradezu betäubende Aroma seiner singulären Stimme erreichten. Fast klingt es, als wäre Deller die idealtypische Stimme der LSD-Zeit gewesen.

So wie ihn die jetzt auf DVD veröffentlichte Interview-Dokumentation von Benoit Jacquot aus dem Jahr 1976 zeigt, scheint es, dass Deller seine Konzerte grundsätzlich im Sitzen gab. Seinen Dowland- und Purcell-Gesängen merkt man dabei nicht den geringsten Anflug von Nervosität oder Kunstbeflissenheit an. Deller enthüllt dem Publikum die Schönheiten und das Stilempfinden einer Stimme, so als führe er einen Besucher durch den Garten. Zwanglos, unaufgeregt, nebenbei.

Auf der beigefügten CD ist Deller noch einmal in jenen legendären Shakespeare-Lautensongs von Thomas Morley, Thomas Campion, John Blow u.a. zu hören, die ihn unsterblich machten (und die seither kaum ein Countertenor mehr zu singen wagt).

Im Konzert und bei Aufnahmen begleiteten ihn seit den fünfziger Jahren nicht zufällig junge Musiker wie Nikolaus Harnoncourt, Wieland Kuijken und William Christie - Leute, die von hier ausgehend die Szene revolutionierten. Umso erstaunlicher, dass die Innigkeit, der melancholische Schmelz und der erotisch changierende, sexuell zweideutige Seelenton dieser Stimme nie mehr auch nur ansatzweise erreicht wurden.

Alfred Deller galt als scheuer Sänger, im Anschluss an diesen Film ließ er sich nie wieder zu einem Interview bewegen. Durch eine Naturlaune hatte er seine Knabenstimme behalten, getan hatte er dafür wenig. Umso entwaffnender klingt das Geheimnis, dass er in diesem Film lüftet: Er habe, so sagt Deller, einfach nie aufgehört wie ein neunjähriger Knabe zu singen. So sei das eben. Er fühle sich immer noch wie ein kleiner Junge.

Keine Frage, dass Deller auf einer Stufe mit Sängern wie Maria Callas und Enrico Caruso steht: Er erfand den Stimmbalsam im Schallplatten-Zeitalter neu. Und er ist der Einzige geblieben, dem die überirdischen Qualitäten seiner Stimme ganz natürlich waren.

Dabei sang er wie die Engel.


Alfred Deller - Portrait d'une voix (A Film directed by Benoit Jacquot). Harmonia Mundi France HMD 9909018 (1 DVD + 1 CD).

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