Video-Blog von Sophie Hunger Im finsteren Tal der weiblichen Unabhängigkeit

Sophie Hunger, 1983 in Bern geboren, ist eine der bekanntesten Popkünstlerinnen der Schweiz. Ihr aktuelles sechstes Album "Supermoon" schaffte es auch in Deutschland unter die Top Ten. Beim neuen Berliner Musikfestival Pop-Kultur tritt die Sängerin, Musikerin und Autorin als Headlinerin mit Überraschungsgästen auf. Ihr Festival-Blog "Die Weltmeister" erstellten sie und ihr Team exklusiv für SPIEGEL ONLINE.
Liebe Leser, bis einschließlich Samstag zeigen wir Ihnen täglich eine Episode des Kurzfilms "Die Weltmeister", den Sophie Hunger und ihr Team exklusiv für uns und das neue Berliner Musikfestival Pop-Kultur gedreht haben. Dazu bloggt Hunger, die am Freitagabend mit verschiedenen Gästen als Headlinerin des Festivals auftritt, täglich über ihre Sicht auf die Pop-Kultur und ihre Favoriten im Festival-Programm.
"Die Weltmeister" - Episode 4: " Queen Drifter"
Die Geburtenrate ist mal wieder gesunken in Deutschland. Dafür steigt die Zuwanderungszahl, eine Win-Win-Situation. Eigentlich müsste Franz Josef Wagner jubilierende Luftsprünge machen in Anbetracht der Ankunft all dieser karrierelosen, untrainierten, selbstvergessenen jungen, trächtigen Frauen, die täglich den Stacheldraht überwinden, um sein kinderarmes Deutschland zu erlösen. Oder spinn ich etwa?
Allein zu sein ist keine Tragödie. Es ist nicht nötig, von einer Popsängerin zu erwarten, dass sie an ihrer Abgeschiedenheit leidet, am Penthouse-Fenster steht und sich wünscht, dass irgendeines jener vielen Autos dort unten im Kreisverkehr schlagartig stehen bleibt, hinter sich Kollisionen auslösend, seine Fahrbahn verlassend, von mirakulösen Winden getragen emporsteigt, um schließlich auf Augenhöhe mit ihr, schwebend, einen Mann oder eine Frau aus seinem Innern zu entlassen, der/die den Popstar dann durch das finstere Tal der weiblichen Unabhängigkeit trägt.
Verantwortungslosigkeit, das ist etwas, was Künstler brauchen. Es muss möglich sein, einen ganz schlimmen Gedanken vorzuschlagen, ohne an ihn zu glauben, ihn aber wie ein Flugzeug mit Kerosin in den Himmel zu zeichnen, sodass er sichtbar wird. Ich gebe zu: Ich fürchte es, meine Besessenheit zu verlieren. Ich fürchte es, plötzlich erpressbar zu sein, plötzlich innerlich abgelenkt zu sein durch die Liebe, wie die zum eigenen Kind. Eine eigensüchtige, egozentrische, ungerechte Liebe. Eine Liebe, die uns Partei ergreifen lässt für uns selbst, auch wenn wir ganz falsch liegen.
Heute Abend gibt es auf dem Pop-Kultur-Festival zwei Besessene. Um 18.40 Uhr bestaune ich die rätselhafte Marie Ocher in der "Kantine" und spaziere dann ins Berghain, wo Neneh Cherry um 20.40 Uhr erscheint. Letztere galt in den Neunzigerjahren als Sinnbild einer neuen, unabhängigen, weiblichen Generation. Genauso wie Taylor Swift oder FKA Twigs heute. Immer wenn ein Mädchen eine Nummer eins macht, spricht man von einer neuen Ääääära. Dudes, das ist kein Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, Dudes, das machen wir jeden Tag, den ganzen Tag, schon immer, schaut her.
Episode 3 verpasst? Hier klicken und nachlesen! Episode 1 finden Sie hier, Episode 2 ist hier.
Hier können Sie die bisherigen "Weltmeister"-Videos ansehen:

Die Pop-Kultur ist ein neues Musikfestival auf dem Gelände des Berliner Techno-Clubs Berghain, der erstmals seine verschiedenen Spielstätten für ein solches Event öffnet. Veranstalter ist das vom Senat finanzierte Musicboard Berlin, das eine Avantgarde-orientierte Alternative zu früheren Branchen-Treffs schaffen will. Die Pop-Kultur soll Schaukasten und Begegnungsstätte für Szene und Publikum sein. Ausführlich berichtet haben wir hier. Mehr als 60 Künstler treten nicht nur auf, sie nehmen auch an Panels und Workshops teil, die für Bands und Publikum offen sind. Neben etablierten Acts wie New Order, Neneh Cherry, Pantha Du Prince und Sophie Hunger werden vor allem wichtige deutsche Pop-Newcomer zu sehen sein, wie Isolation Berlin, Balbina, Messer, Schnipo Schranke und Die Nerven.Pop-Kultur Berlin - Homepage