
Klavierlegende Dinorah Varsi: Drahtseilakt auf Tasten
Starpianistin Dinorah Varsi Mit Klarheit zur Wahrheit
Dinorah Varsi (1939-2013) gehörte schon zu den international erfolgreichen Pianistinnen, als sie vom Klavierkenner und Kritiker Joachim Kaiser einen kleinen Dämpfer erhielt. Nein, an die Statur eines Vladimir Horowitz reiche die Dame aus Uruguay dann doch nicht ganz heran, schrieb er Ende der Sechzigerjahre in seinem Standardwerk "Große Pianisten in unserer Zeit".
Damit kann man freilich leben, gegen den Zauberer Horowitz nach Punkten zu unterliegen. Anlass des Kaiser-Urteils war ein Vergleich der beiden Interpretationen von Robert Schumanns "Kreisleriana" op. 16, wobei der Kritiker Varsis Version in den schnellen Mittelteilen für zu wild und verzettelt befand. Bei ihrem Temperament, mit dem rauschenden Überschwang, geht eben manchmal Emotion vor Präzision.
Jetzt kann man sich, zumindest via CD und DVD, über die eigenwillige Künstlerin ein womöglich neues Urteil bilden, denn das mutige Leipziger Label Genuin hat von Dinorah Varsi eine Werk-Box herausgebracht, die mit dem Adjektiv "opulent" sehr dezent bezeichnet ist.
Auf 35 CDs und fünf DVDs präsentiert das Label in vielen bisher unveröffentlichten Aufnahmen ein Kanon-Repertoire von Beethoven, Brahms, Chopin bis Bartók, lässt Varsi aber ebenso mit Abstechern zu südamerikanischen Komponisten wie Ginastera und Villa-Lobos glänzen, wirft eine kleine Sonate von Galina Ustwolskaja in den Ring und rundet den Streifzug durch das reiche Pianistinnenleben mit Visiten bei César Franck, Claude Debussy und Eugène Ysaÿe ab.
Selbstbewusst und flink im Konzert
Die erwähnte "Kreisleriana" ist in dieser Box gleich in zwei Fassungen vertreten, einmal als frühe Konzertversion von 1967 sowie als Studioeinspielung von 1979. Dinorah Varsi nimmt ihren Schumann im Konzertsaal selbstbewusst und temperamentvoll, bietet ein flinkes und oft überschäumendes Galoppieren an, ein Lebensgefühl für den genialen Moment. Aber zwölf Jahre später, im einsamen Studio, war es die lichte Ruhe und Klarheit, die für die Künstlerin zur Wahrheit führte.
Was dann auch für ihre Sicht der deutschen Romantik und Klassik galt, zumindest in den hier vertretenen Studioaufnahmen. Varsis Beethoven von 1967 klingt nicht so analytisch und durchlüftet wie Friedrich Guldas damalige Auffassung, hat aber auch wenig von der gelassenen Weihe eines Wilhelm Backhaus. Vielleicht war es das südamerikanische Element: Der junge Daniel Barenboim, in Argentinien geboren, widmete sich damals ebenfalls mit unkonventioneller Verve den Beethoven-Sonaten.
Perfekter Bach mit acht Jahren
Dinorah Varsi stammt aus Montevideo, spielte seit frühen Kindertagen Klavier, beherrschte mit acht Jahren bereits vortragsreif Bach-Klavierkonzerte und absolvierte als Dreizehnjährige ihr erstes öffentliches Recital. 1961 gab sie in Dallas ihr USA-Debüt, New York und Europa folgten bald. Als Dinorah Varsi dann 1967 im schweizerischen Vevey den Clara-Haskil-Wettbewerb gewann, war ihre internationale Karriere schon bestens unterwegs.
Wie viel Varsi auch daran lag, ihr Wissen und Können an Schüler und jüngere Pianisten weiterzugeben, dokumentieren die in der Box enthaltene DVD mit ihrer Karlsruher Meisterklasse und die Interviews, auch im großformatigen Booklet. Natürlich sprengen solche Dokumente beinahe den Rahmen einer solchen Edition. Wer sich aber mit der gesamten Künstlerpersönlichkeit Varsis auseinandersetzen möchte, findet hier reichlich interessante Facetten. Überhaupt lohnt es sich, Dinorah Varsi in den zahlreichen Konzertaufzeichnungen, solo und mit Orchester, zu studieren, denn ihre Ruhe und Souveränität selbst im waghalsigsten technischen Sturmgebraus beeindrucken fast ebenso wie ihre Interpretationen.
"The Walk" auf Tasten
Bei den Chopin-Etüden op. 10 etwa gelingt es ihr, jede einzelne Etappe bis zur "Revolutions-Etüde" zum dem Charakterstück zu formen, das gefordert ist. Schließlich sollen die Interpretationen der "Übungsstücke" über reine Technik triumphieren, der Geist soll die Technik sieghaft gestalten.
Varsi arbeitet melodische Unterströmungen eigenwillig heraus und entwickelt aus dem Rhythmus stets treibende Dramatik - ein Drahtseilakt,"The Walk" auf Tasten, der die Etüden atmen lässt. Es sind im besten Sinne historische Bildaufnahmen, die sich ganz dem pianistischen Ausdruck widmen, keinerlei bildnerische Mätzchen versuchen und die innere Ruhe der Interpretation reflektieren.
Niemand kann wohl je die gläserne Klarheit und Endgültigkeit von Maurizio Pollinis Interpretation dieser Etüden toppen - das Leben, den natürlichen Pulsschlag und das sinnliche innere Kraftwerk in jedem der kurzen Stücke bringt Dinorah Varsi unnachahmlich zum Klingen. Alles eine Frage des Temperamentes, auch der Genuss.

Robert Schumann, Maurice Ravel, Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, et al.:
Legacy
Dinorah Varsi (Klavier).
Genuin; 35 CDs + 5 DVDs (Box-Set); 132,22 Euro.
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