Dirigenten-Newcomer Dudamel Ausdruckstänzer am Pult
Es hält ihn oft kaum auf seinem Dirigenten-Pult: Gustavo Dudamel, gefeierter Jungstar aus Venezuela, explodiert förmlich, wenn in Gustav Mahlers fünfter Symphonie die krachenden Blechbläser-Tutti breitwandig brausen oder wenn im tänzerischen Scherzo die Streicher elastisch ausschwingen. Er springt, er argumentiert mit den Armen, geht auf Zehenspitzen und stürzt sich wie ein Felsenspringer in die Klangfluten des Mahler-Meeres, dessen Stürme an diesem Abend in der Lübecker Konzerthalle unter Totalkontrolle eines Meisters stehen und damit umso stärker mitreißen.
Leonhard Bernstein, seinerzeit ein ebenso großer Mahler-Dirigent und Ausdruckstänzer am Pult, würde seine helle Freude daran haben. Aber dieser Dudamel ist kein naiver Schwelger, der sich selbstgefällig und showlustig den Klängen hingibt: Er ist der Frontman einer Supergruppe, und die heißt Simón Bolívar Youth Orchestra. Das junge Eliteorchester des vielgelobten venezuelanischen Musikschulen-Modells gehört inzwischen zu den größten und interessantesten Klangkörpern weltweit. Und Größe darf in diesem Fall auch quantitativ gesehen werden: Die Zahl von über 200 Mitgliedern dürfte rekordverdächtig sein.
Rund 100 davon waren im Rahmen ihrer Deutschlandtournee 2007 zum Schleswig-Holstein Musikfestival gekommen, und für sie war selbst die große Bühne der Messe- und Konzerthalle an der Trave gerade eben groß genug. Aber Gustav Mahler braucht auch (Musiker-)Masse, und so konnte Orchester-Chef Gustavo Dudamel in jeder Hinsicht aus dem Vollen schöpfen. Wie spannend und unvoreingenommen von überlieferter Interpretationspraxis er "seinen" Mahler interpretiert, konnte man schon der vorab erschienenen CD entnehmen. Dudamel wird derzeit angemessen perfekt vermarktet, der Rhythmus von Veröffentlichung, PR und Tournee ist präzise getaktet.
Man hat von der Popwelt gelernt. Und so werden die neuen Klassik-Stars - wer stöhnte da noch über die E-Musik/U-Musik-Trennung? - eben fix zu Popstars. Sind wir nicht alle ein bisschen Netrebko? Das ist auch erlaubt - wenn die Lust siegt. Und an diesem Abend siegte die Spiellust der venezolanischen Hundert, die zu keiner Sekunde auch nur den Hauch einer Unsicherheit, Schwäche oder gar Scheu vor den Mahler-Klippen zeigten.
Eine Versammlung von Solisten
Schon der Anfang der Fünften fordert einen gestandenen Solisten: Die Solo-Trompete muss erst verhalten, klar, dann kraftvoll und pointiert daherkommen - ein Musiker allein startet den 70 Minuten währenden Ritt. Und bereits dieser Start geriet brillant. Schnell wurde einmal mehr klar: Dieses "Jugendorchester" (die Musikerinnen und Musiker sind zwischen 16 und 26 Jahre alt) ist eine Versammlung von Profis, denn ähnliche Leistungen wiederholten sich bei den Hörnern, den Holzbläsern, beim Schlagwerk und den geschmeidigen Streichern, die alle Dynamik-Gegensätze und Spannungsbögen punktgenau zelebrierten.
Die beiden Kopfsätze der Symphonie, die Gustav Mahler vor rund hundert Jahren, zwischen 1901 und 1903, schrieb, entfesseln ein stürmisches, noch ganz positives Weltbild einer künstlerischen Leidenschaft, die formen und gestalten kann, ohne die Brechungen, Zweifel und Düsternis, die die folgenden symphonischen Werke prägten. So fulminant und überschäumend gelangen die Riesensätze, dass ein Zuhörer danach in spontanen Jubel ausbrach: Normalerweise ein Faux-Pas, hier lächelnd und freundlich quittiert. Alles ist mit diesem Orchester etwas anders.
Der dritte Satz - für ein Scherzo mit über 800 Takten ungewöhnlich lang - spielt mit tänzerischem Groove und feiner Sinnlichkeit und verlangt nach dem brachialen Start größte Eleganz und Stilgefühl. Das gelingt den Saiteninstrumenten sowohl in den federnd biegsamen Ensembles als auch in der geforderten kammermusikalischen Intimität. Gustavo Dudamel disponiert hier den riesigen Klangapparat mit überragender Klarheit und festem Zugriff. Spiellust ohne eitlen Selbstzweck, kein Zerfall in schöne Stellen, sondern ein Sog der Sinnlichkeit, der direkt in das bekannte Adagietto mündet.
Zwischen Göteborg und Los Angeles
Dieses Adagietto kennt jeder Kinofan aus Luchino Viscontis "Tod in Venedig"-Verfilmung, in der Visconti ja aus Thomas Manns Schriftsteller-Helden Aschenbach einen Musiker gemacht hat, Gustav Mahler nachempfunden. Wie Dudamals Orchester hier dem gefälligen Kitsch und dem oberflächlich fließenden Soundtrack-Feeling entgeht, ist allein schon bewundernswert. Doch noch größer, wie aus dieser seidigen, fast trägen Spannung der sofortige Aufschwung zum triumphalen, noch einmal alle Emotionen aufbietenden Schlusssatz gelingt. Hier wird die gestalterische Kraft, die Vision, die vom Dirigenten ausgeht, förmlich mit Händen greifbar.
Ungeprägt von europäischem Traditionswust spielen die jungen südamerikanischen Musiker - so, wie sie "ihren" Mahler erfühlen und nur aus den Noten allein erschaffen. So viel Frische und klare Luft fegt selten durch Mahlers Fünfte. Man könnte das naiv nennen, aber das zielte am Kern vorbei. Wie oft wünscht sich ein Musikhörer, dass da einer - oder ein Orchester! - daherkommt, und das Stück spielt wie am ersten Tag. Dudamels große Kollegen wie Abbado, Barenboim und Rattle haben ihm schon längst bestätigt, dass er auf dem Weg ist, einer der Größten zu werden. In diesem Jahr übernimmt er als Leiter das Göteborger Symphonieorchester, danach kommt Los Angeles hinzu. Man feiert ihn weltweit.
Armin Mueller-Stahl, der zurzeit in Lübeck für die Neuverfilmung der "Buddenbrooks" vor der Kamera steht, saß in der ersten Reihe und schien den Mahler-Klangrausch ebenso zu goutieren wie der Rest der Konzertbesucher in der ausverkauften Halle. Ein Beifall, so laut wie die fettesten Forte-Stellen der Partitur - Gustavo Dudamel nahm den Jubel dankbar und mit jungenhaftem Charme entgegen. Inmitten seiner hundert Stars.