Abgehört - neue Musik Hymnen fürs Wohnzimmer-Vogueing
(Urban/ Universal, seit 27. März)
Die allerwichtigste Funktion von Dua Lipas zweitem Album, ausgelassenes Tanzen, kann man leider zurzeit nicht wie geplant im Club oder auf der Party ausleben. Das ist enttäuschend. Einerseits. Andererseits stellt sich "Future Nostalgia" in eine Reihe mit dem großen, erfolgreichen, dezidiert weiblichen Dancepop der vergangenen Jahrzehnte von Blondie bis Madonna, von Kylie Minogue bis Robyn, in dem gerade das Tanzen Teil einer femininen Selbstermächtigung wurde, I keep dancing on my own.
Dua Lipa, ein Superstar für die Millennials-Generation, führt diesen Gestus mit angemessener Verbeugung vor vergangenen Leistungen in die Gegenwart ihrer zumeist jugendlichen Fans. Die 24-jährige Sängerin erlebte 2017 mit ihrem Nummer-eins-Hit "New Rules" den Durchbruch in Europa und den USA, nachdem sie in England von Warner Bros. unter Vertrag genommen wurde (in Deutschland erscheint ihre Musik bei Universal).
Die Plattenfirma suchte damals eine junge Künstlerin, um gegen die Rihannas und Lady Gagas der Konkurrenz bestehen zu können - und landete mit dem Ex-Model einen Instant-Treffer. Mit "Future Nostalgia" nutzt Dua Lipa nun die auf dieser marktstarken Plattform akquirierten Produktionsmittel und Aufmerksamkeiten, um ihre eigene Pop-Vision auszuformulieren. Hilfe bei Songwriting und Beats leisteten zahlreiche Branchen-Cracks, darunter Stuart Price und Kanye-West-Kollaborateur Jeff Bhasker.
Lipa stellt jedoch gleich im eröffnenden Titelstück keck rappend klar, dass sie sich über 08/15-Hit-Rezepturen erheben möchte: "You want the recipe, but can't handle my sound" singt sie, und dann folgt die Kampfansage gegen jegliche Art der Marginalisierung als One-Hit-Popsternchen: "You want a timeless song, I wann change the game".
Dass sie, im selben Song, den Punkt machen muss, dass die Männerwelt sich noch immer nicht an ein "female alpha" im Musikgeschäft gewöhnt habe ("no way, no way") macht ihr kühnes Auftreten nur noch wirkungsvoller. Zumal dann mit dem aggressiv basspumpenden Funk-Pop-Hit "Don't Start Now" eines ihrer bisher besten Stücke folgt.
Von solchen Instant-Hits gibt es gleich mehrere in den knapp gehaltenen 40 Minuten des Albums. Das von Tove Lo mitgeschriebene "Cool" zitiert klug den Avantgarde-Elektropop von Freur aus den Achtzigern, "Physical" gleitet auf denselben Retro-Science-Fiction-Spannungsbögen dahin wie die aktuellen Songs von The Weeknd. Höhepunkt ist "Hallucinate", eine Fusion aus druckvoll zischenden House-Beats und "I Feel Love"-Discofieber. Dass es im Text, wie in den meisten anderen des Albums, vorrangig um eher alltägliche Verliebtheits-, Sex- und Attraktivitäts-Verhandlungen geht, tut der Macht dieses Songs, einem zum übermütigen Wohnzimmer-Vogueing zu zwingen, keinen Abbruch, im Gegenteil.
Denn auch wenn das Album einige dann doch generisch wirkende Nummern enthält, formt Lipa aus den Echos früherer Pop-Heldinnen eine Pose der Stärke: Es gibt kein "crying dance", wie Lipa in Interviews die lyrisch oft selbstmitleidigen Uptempo-Nummern von Geschlechtsgenossinnen abqualifiziert, es gibt auch keine Balladen - nur Power.
Umso auffälliger, dass sie im letzten Song des Albums doch noch das Tempo drosselt, einen Mädchenchor aufstellt und vom Tänzeln in den Angriff wechselt: "Boys Will Be Boys" prangert die Angst vor Cat-Calling und Übergriffen durch Männer an, die frustrierenden Angewohnheiten, Anmachen und Übergriffe wegzulächlen oder nachts nur mit dem Schlüssel zwischen den Faustknöcheln zum Auto zu laufen. Boys, singt Lipa, werden Boys bleiben, aber "Girls will be women". Kann losgehen, der game change. (7.9) Andreas Borcholte
(Republic/Universal, seit 27. März)
Der Fotograf Paul Nicklen dokumentiert die Schönheit einer untergehenden Welt und erreicht so Millionen bei Instagram und YouTube. Eines seiner Fotos heißt "Ice Waterfall" und inszeniert das Abtauen des norwegischen Nordaustlandet-Gletschers als majestätisches Naturschauspiel. Die amerikanische Rockband Pearl Jam hat dieses Bild nun mit einer sagenhaft hässlichen, an ein Seismogramm erinnernden Typografie versaut, welche das Drama der Klimakatastrophe zusätzlich betonen soll. Das Album zu diesem Cover heißt "Gigaton": 290 Gigatonnen Eis schmelzen allein in Grönland jährlich dahin, eine unvorstellbare Größenordnung.
Nun ist Pearl-Jam-Sänger Eddie Vedder ein Mann, über den seine Kritiker hämisch sagen, er könne die Polkappen allein mit seinem Gesang zum Schmelzen bringen. Vedders Metier ist das hochemotionale, bisweilen pathosgeladene Fanal. Der Grunge-Veteran ist einer der besten Sänger seiner Generation und trägt selbst dann eine mitreißende Dringlichkeit in seiner Stimme, wenn er über die Magie von Vinylschallplatten singt, wie 1994 in dem Punkkracher "Spin The Black Circle". Pearl Jam waren damals eine der größten Bands der Welt. Das Publikum erwartete Hymnen, bekam aber räudigen Punkrock. Das hat Pearl Jam offenbar so viel Spaß gemacht, dass sie seitdem zahllose Variationen des Songs aufgenommen haben, der aktuelle Wiedergänger heißt "Take The Long Way".