Echo-Verleihung Laue Lieder für Millionen
Was das Fußvolk will, steht außer Frage. Bereits hundert Meter vor dem Eingang des grotesk verbauten Estrel Hotels schneiden Rufe die schneegraue Luft. "Wir wollen Tokio Hotel!", brüllen Dutzende Mädchen in den Neuköllner Himmel - und versuchen so, dem Magdeburger Quartett zu einem Triumph bei der Verleihung des Deutschen Musikpreises Echo zu verhelfen.
Der Abend versprach ein Siegeszug für die Band zu werden, die von der Deutschen Phono-Akademie für vier Trophäen nominiert war - und deren Fans den Saal terrorisierten. Kaum ein Echo durfte verkündet werden, ohne dass hysterische Fans nach Tokio Hotel verlangten - auch wenn die Band gar nicht in der zu vergebenen Rubrik antrat. Michael Haentjes sprach zu Beginn von der Hoffnung, Musik würde "deaggressiv" wirken. Die Worte des Akademie-Vorsitzenden verpufften im Kreischen der weiblichen Teenager.
Das Show-Programm setzte den aufgepeitschten Fans vor allem musikalische Schlaftabletten entgegen. Das ehemalige Spice Girl Melanie C. eröffnete den Abend mit einer müden Ballade, gefolgt von dem introspektiven Rosenstolz-Hit "Ich bin ich" und einem trägen Lied von Tokio Hotel. Das waren laue Lieder für Millionen - und der Abend erfüllte alle Erwartungen, mal wieder schlechter als sein Ruf zu werden.
Torino = Milano?
Die Musiker spielten lustlos, viele Auftritte wirkten banal - und die Moderatoren patzten. Michelle Hunziker gelang es mehrmals, am falschen Ort zur falschen Zeit zu stehen oder einen Preis anzumoderieren, während auf der Leinwand gerade ein Video eingespielt wurde. Viel chaotischer operierte Viva in seinen Anfangstagen auch nicht. Da konnte Co-Moderator Oliver Geißen mit seiner professionellen Jovialität leider wenig helfen, zumal er die soeben beendeten olympischen Winterspiele von Turin gleich zweimal nach "Milano" verlegte.
Das Programm kuschelte dahin, Kelly Clarkson und Sasha sangen noch mehr Balladen, und man hoffte inständig auf die bösen Einlagen von Komiker Michael Mittermeier. Er hatte in den vergangenen Jahren der Branche einen satirischen Spiegel vorgehalten. Aber nein, dieses Jahr entschied sich der übertragende Sender RTL für den arrivierten Toilettenwitz des Veteranen Otto Waalkes. "I-Pod heißt auf Deutsch Nachttopf", war dabei noch einer der größten Lacher.
Der Kampf um die akustische Vorherrschaft nahm derweil bizarre Formen an. Ansager wie Tim Mälzer oder Yvonne Catterfeld moderierten verzweifelt eine Kategorie an, die Kids in Reihe Eins brüllten wie am Spieß - und am Ende schien jeder Promi froh zu sein, den Hexenkessel Bühne verlassen zu dürfen.
Wichtig ohne Weltstars
Auch Box-Weltmeisterin Regina Halmich erging es ähnlich. Sie präsentierte den Echo für die beste nationale Gruppe, öffnete den Umschlag, die erste Reihe kreischte "Tokio Hotel, Tokio Hotel", Halmich stutzte, die Mädchen schrien sich in Rage, Halmich las vor: "Die Gewinner sind Wir sind Helden", ein Applaus der Erleichterung brandete im Saal auf - und vorne bei den Fans herrschte erstmals Ruhe.
Damit begann die Dekonstruktion des Abends. Tokio Hotel nahmen am Ende nur einen Preis mit nach Hause: als beste Nachwuchsband. In der Kategorie "Bester Hit" verloren sie ehrenvoll gegen Madonna, die mit "Hung Up" gewann. Die Pop-Queen ergatterte außerdem in einem "wahren Kopf-an-Kopf-Rennen", wie Geißen sagte, den Titel als beste internationale Sängerin - und war dank zwei Echos die Gewinnerin des Abends.
Natürlich kam sie nicht oder ließ sich gar zu einer Dankesbotschaft herab - obwohl die Veranstalter gerne protzen, der Echo sei der wichtigste Musikpreis Europas und nach dem Grammy der zweitwichtigste der Welt. Wie Superstar Madonna, die bei den Grammys und bei den MTV Europe Music Awards gerne aufgetreten war, glänzten übrigens alle internationalen Gewinner mit Abwesenheit: Robbie Williams, Coldplay, James Blunt, System Of A Down, 50 Cent und Michael Bublé. Die Hälfte schickte immerhin eine Video-Botschaft. Coldplay bedankten sich für den Preis artig bei den deutschen Bands Kraftwerk und Rammstein. Robbie Williams drohte: "See you in the World Cup!" Niemand hatte sie für eine Reise in das authentisch-schmutzige Neukölln begeistern können.
Seeed - einsamer Höhepunkt
Nur den Weltstar Shakira störte das Ghetto-Klima drumherum nicht. Sie kam, sang und ging ohne Preis zurück ins Hotelzimmer. Den Echo als beste internationale Künstlerin hatte ihr Madonna in letzter Minute weggeschnappt. Der Auftritt versüßte die Show trotzdem - sie verstand es, mehr als nur zwei Quadratmeter Bühne zu benutzen, verstieg sich nicht zu peinlichen Hüftbeugen wie Melanie C. oder dramatischen Rock-Gesten wie die Popband Reamonn.
Gegen die Lokalmatadoren von Seeed hatte jedoch auch Shakira keine Chance. Die elfköpfige Reggae-Band stand zusammen mit dem Londoner Rap-Duo Mattafix ("Big City Life") auf einer Bühne. Und endlich - endlich! - überschritt eine Performance das Energie-Niveau einer Taschenlampe. Wie die Berliner in ihren roten Anzügen tanzten, wie die drei Tänzerinnen trampelten als wären sie vom Teufel besessene Krankenschwestern, wie die Beats durch die Halle zischten - so hätte man sich die ganze Show gewünscht.
Es blieb bei diesem einen Höhepunkt. Der Echo 2006 wird als eine der langweiligsten Preisverleihungen in die Geschichte eingehen. Es gab keine Kontroverse, Widerworte oder Anfechtungen. Da musste erst "Saint Bob" Geldof auf die Bühne kommen, den Ehrenpreis für besondere Leistungen entgegen nehmen und die Deutschen wachrütteln, sich weiter gegen Armut zu engagieren. Wie ein König redete er zu seinen Untertanen - da blieben selbst die notorischen Tokio-Hotel-Fans still.
Am Ende lief alles aus dem Ruder. Peter Kraus erhielt den Echo für sein Lebenswerk und musizierte zusammen mit Michael Schanze und Otto. Zum großen Finale sollten dann wie immer alle Preisträger noch einmal aufmarschieren - aber nur Mattafix und Christina Stürmer standen verloren auf den zwei großen Bühnen. Oliver Geißen wartete umsonst auf seine Abmoderation, die Regie spielte dafür eine Fanfare in Dauerschleife ein, die Zuschauer verließen irritiert den Saal und schüttelten die Köpfe. Mission erfüllt: Echo versenkt.