Album der Woche mit Ed Sheeran Grabbeltisch für Castingshow-Kandidaten

Bloß kein Umsatzminus riskieren: Der knuffige Pop-Superstar Ed Sheeran inszeniert sich zur Veröffentlichung von »-« als trauriger Schmerzbube, traut sich aber den musikalischen Bruch nicht zu – unser Album der Woche.
Musiker Ed Sheeran

Musiker Ed Sheeran

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Tim Mosenfelder / WireImage / Getty Images

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Album der Woche:

Ed Sheeran – »-« (Subtract)

Wenn man eigentlich schon alles erreicht hat, Charts- und Spotify-Rekorde gebrochen, globale Hits wie »Perfect« oder »Shape of You« geschrieben hat, mehr als 150 Millionen Tonträger verkauft und mit Ende zwanzig bereits zu den reichsten britischen Berühmtheiten zählt, dann muss man sich schon etwas einfallen lassen, um ein neues Album interessant zu machen. Ed Sheeran, 32, rothaarig-zotteliger Singer-Songwriter aus Suffolk, entschied sich zur Veröffentlichung von »-«, also »Minus«, für ein Popstar-Narrativ, das wahrscheinlich so alt ist wie die Musikbranchen-PR selbst: Das fünfte Album, das er seit 2011 veröffentlicht, sei sein persönlichstes geworden, suggeriert er.

Natürlich ist es das.

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Warum, das erklärt Sheeran in einer vierteiligen Dokuserie, die parallel zum Album bei Disney+ erschienen ist. Auch das natürlich ein Privileg des Superstars: Interviews zum neuen Album gab Sheeran nur eines, in dem er Musikjournalismus gleich mal als überflüssig bezeichnete . Die Disney-Doku erlaubt es ihm nun, auf großer Bühne und ohne störende Nachfragen seine eigene Erzählung zu setzen. Gleichzeitig erlaubt der Künstler seltene Einblicke in sein Privatleben und schildert die persönlichen Rückschläge des vergangenen Jahres, die zu den nun angeblich ungewöhnlich deepen Songs führten: Seine Frau Cherry hatte einen Tumor im Arm, als sie schwanger mit ihrer zweiten Tochter war; Sheerans früher Mentor und bester Freund, Grime-Geburtshelfer Jamal Edwards, starb an Herzversagen unter Drogeneinfluss, ihm ist unter anderem der neue Song »Eyes Closed« gewidmet. Zu sehen ist, wie Sheeran, eher ein Kontrollfreak auf der Bühne und im Privaten, bei einem frühen Auftritt mit dem neuen Material in der Londoner Union Chapel in Tränen ausbricht. Ohnehin weint er sehr viel in den zwei Stunden der Doku.

Sollte man Sheeran vorher nicht gemocht oder ignoriert haben, fällt es schwer, ihn danach nicht ins Herz zu schließen: Good lad! What a nice guy! Sheeran versteht es wie kein anderer Pop-Superstar, sich immer noch als der knuffige Normalo mit der Akustikgitarre und der Loopstation zu inszenieren, der sich, auch das ist in dem Vierteiler zu sehen, spontan in seiner Heimatstadt Ipswich auf die Rathausstufen stellt, ein kleines Konzert gibt und einem Jungen in der ersten Reihe auch noch seine Gitarre schenkt. Der Mann ist so entwaffnend sympathisch, dass es einen rasend machen könnte.

Die Plagiatsprozesse, einer wegen »Shape of You«, den er 2022 gewann, einer wegen der vermeintlichen Ähnlichkeit zwischen Sheerans »Thinking Out Loud« und Marvin Gayes »Let’s Get It On«, der ebenfalls 2022 begann und am Donnerstag mit einem Freispruch Sheerans endete, kommen in der Doku übrigens nur am Rande vor, als zusätzliche Stressfaktoren in einem ohnehin schon belastenden Jahr. Sheeran drohte damit, seine Karriere vielleicht an den Nagel zu hängen, wenn er verliere. Er ließ seine Anwältin darauf pochen, dass es so etwas wie musikalisches Gemeinschaftseigentum gebe und spielte im Gerichtssaal ein Medley aus bekannten Popsongs, um zu demonstrieren, dass ein Großteil der populären Musik eben oft aus denselben wenigen Ton- und Akkordfolgen komponiert werden. Ist doch klar, dass es da zu Ähnlichkeiten komme.

So wie bei »No Strings«, dem vorletzten Lied auf »-«, das zumindest diesen Hörer in bestimmten Harmonien an den Spätneunziger-Hit »When You Say Nothing At All« von Ronan Keating erinnert. Aber man will ja nicht gleich das nächste Fass aufmachen. So selbstgerecht und ausnahmsweise unknuffig Sheeran im Prozess aufgetreten sein mag: Er hat natürlich recht – und die Popmusik wäre so gut wie tot, wenn gängige Akkordfolgen nicht mehr verwendet werden dürften.

Die Frage ist ja, ob Sheeran mehr kann als diesen leicht wiedererkennbaren Jedermann-Pop, der ihn berühmt gemacht hat. »-« gibt darauf eine zwiespältige Antwort. Die Songs, das ist wohl das Abzügliche, das im Titel gemeint ist, sind roher und sparsamer arrangiert als zuletzt auf seinen mit R&B- und Hip-Hop-Einflüssen polierten Megahit-Alben. Die meisten Stücke sind Balladen und klimpern zumeist auf dem E-Piano (seltener auf der Gitarre) vor sich hin, bevor sie in jenen hymnisch aufwogenden Refrain münden, der im radiotauglichen Songpoetenpop gerade so en vogue ist. Sheeran hat diese in der Strophe noch peppige, im Chorus dann theatralische Emo-Spielart ja quasi miterfunden. Behutsam und mit viel Sinn für gedimmte Atmosphäre produziert wurde das Album von Aaron Dessner (The National), der zuletzt auch mit Taylor Swift an ihren Lockdown-Folk-Alben arbeitete.

Die Offenheit, mit der Sheeran seine depressiven Zustände als Schmerzbube verarbeitet, ist berührend. Allerdings erschöpfen sich die nun von klanglichem Wumms befreiten Songs auf Albumlänge bald in immer gleicher Gefühligkeit. Mal gibt’s ein bisschen ermutigende Country-Balladerie (»Life Goes On«), mal eine schön atemlos gerappte Strophe über die Angst vor dem Ernst des Lebens (»End of Youth«) oder ein niedlich erzähltes Elektropop-Date (»Dusty«). Zu vieles aber bleibt dann leider doch Grabbeltisch-Ware für Castingshow-Kandidaten: Klingt schön, vermittelt viel Sinnschwere und Besinnlichkeit – und ist griffig genug, um nicht gleich wieder durchs andere Ohr hinauszurauschen. Mit »Boat«, dem vom Hitfabrikanten Max Martin produzierten »Eyes Closed« und »Vega« hat Sheeran zudem drei dann doch wieder nach altem Muster gestrickte Popsongs parat, die allein garantieren dürften, dass mit »-« kein Umsatzminus droht.

Vielleicht zeigen sich hier erstmals die Limitierungen Sheerans, dem es (noch) nicht gelingt, seinen Schmerz in Musik zu gießen, die sich traut, so brüchig, schroff und karg zu sein, wie er sich offenbar innerlich gefühlt hat oder immer noch fühlt. Das Album ist ruhiger, sicher auch sehr persönlich, aber es geht kaum musikalische Risiken ein und zeigt nur wenige neue Seiten des Künstlers. Was schade ist. Er hätte ja nichts zu verlieren gehabt.

Aber die gerne auch radikale »Neuerfindung«, noch so eine PR-Stanze, steht ja vielleicht noch aus: Seinen Fünf-Alben-Vertrag mit der Plattenfirma Warner hat Sheeran mit dem Abschluss seiner »Mathematik«-Reihe, die vor zwölf Jahren mit »+« begann, nun erfüllt. Er deutete bereits an, demnächst, also nach der kommenden Stadiontournee, etwas kürzertreten zu wollen, sich mehr um die Familie zu kümmern, mal über alles nachzudenken. Gute Idee. (5.0)

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Kurz abgehört:

Paula Paula – »schade kaputt«

Als Tocotronic 2007 von der »Kapitulation« sangen, gab es noch Hoffnung: »Alle, die uns deprimieren / Sie müssen kapitulieren«, hieß es widerständig. Aber schon damals stand die Frage im Raum: »Fuck it all! / Wie soll es weitergehen?« Mehrere Krisen und eine Pandemie später malt sich jetzt die Berliner Sängerin Marlène Colle aus, wie man sich das Leben in Kapitulation vorstellen muss. Die Individuen in ihren Texten stehen kurz vor dem Ermüdungsbruch. »Das Leben ist ein kaputtes Gerät, das wir versuchen zu reparieren«, singt Colle in einem Song ihres neuen Albums »schade kaputt«, das sie jetzt als Paula Paula veröffentlicht hat. Diese Anstrengungen gehen so lange, bis der Akku irgendwann gar nicht mehr lädt und wir heulend zu unseren Kindern marschieren, heißt es in dem Stück mit dem grimmigen Gitarrenriff: »Vielleicht kriegst du’s ja hin, Sohn, die Zeit war zu knapp, / Ich hätt so gerne für dich den Jackpot geknackt, / Doch mir ist kurz vor der Erleuchtung der Motor abgekackt.« Die nächste Generation soll es also richten, für die Älteren bleibt nur, sich ausgepowert an den Straßenrand zu setzen, um den Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich immer weiter voneinander entfremden. Colles Talent ist es, ihren Existenzialismus am Kipppunkt mit viel Humor und sicherem Blick für performative Widersprüche im Alltag zu verarbeiten. Etwa in »Digitale Augen«, das von der Unmöglichkeit handelt, beim Zoom-Date Gefühle zu entwickeln. Colle, Mitglied der Berliner Maskentheater-Gruppe Theatrefragile, veröffentlichte ihre teils auf Französisch gesungenen Chansons bisher unter dem Namen Marlène, jetzt tat sie sich unter anderem mit Kristina Koropecki (Cello, spielt auch bei Kliffs) und dem Singer-Songwriter Gisbert zu Knyphausen (Bass) zusammen, um ihren Sound mit mehr Wucht auszustatten. Ganz vollzogen ist die Kapitulation also noch nicht. (7.5)

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Monika Roscher Bigband – »Witchy Activities And The Maple Death«

Lange, bevor der Blasmusik-Techno von Meute populär wurde, gab es schon mal einen kleinen Hype um den Bigband-Sound der Münchner Jazzgitarristin und Sängerin Monika Roscher. Sie bekam dann 2014 auch einen Echo als beste Jazz-Nachwuchskünstlerin, aber der große Durchbruch blieb aus. Vielleicht, weil Roscher und ihr Orchester eben doch Jazz machen, keinen Pop. Sieben Jahre dauerte es, bis mit »Witchy Activities And The Maple Death« nun ihr drittes, umwerfendes Album erscheint. Es ist ein schwirrender, nervöser, mit feministischer Superkraft aufgeladener Hexensabbat, der um einen psychedelischen, sechsteiligen Zyklus in der Mitte des Albums herumgebaut ist, der »Witches Brew« betitelt ist. Schönen Gruß an Miles Davis. Aber auch in Tracks wie »8 Prinzessinnen« lässt Roscher ihre Orchester einen faszinierenden Zaubertrank aus Metal und Jazz zusammenbrauen. »Creatures of Dawn« ist eine Art James-Bond-Hymne, allerdings von tollkühnen Waldelfen gespielt. Pop-dramatisch wird es auch in »Queen of Spades« über die Rachegelüste einer Pik-Dame. Im schön verstolperten Schlussstück »Unbewegte Sternenmeere« singt Roscher erstmals auch auf Deutsch und liefert als Bonus noch ein Gitarrensolo. Bevor man sich fragt, ob das alles wirklich zusammenpasst, ist man schon verhext. (7.8)

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The Smashing Pumpkins – »Atum«

An Billy Corgan, dem Frontmann der in den Neunzigerjahren aus unerfindlichen Gründen populären Bombast-Rockband The Smashing Pumpkins, kann man ableiten, was vielleicht auch aus anderen Granden der Grunge-Ära geworden wäre, hätten sie überlebt. »Atum«, die mit 33 Songs nicht unbescheiden gestaltete Rockoper, die mit dem dritten und letzten Teil nun vollendet ist, sollte an das ikonische Doppelalbum »Mellon Collie and the Infinite Sadness« von 1995, mindestens aber an das schon kritischer beäugte »Machina/The Machines of God« von 2000 anknüpfen. Klappt natürlich nicht, wie könnte es? Die Zeiten haben sich geändert, die Nachfrage nach Rockopern ist, nun ja, gerade nicht so hoch – und Corgans immer esoterischer gewordene Teenage-Angst-Gesänge sind nur mehr Klagen eines alternden, sich unverstanden fühlenden Wunderlings. In erschreckend altmodisch dahinhackenden und vergniedelten Metal-Monstern wie »Harmageddon« ruft er nach Engeln, die ihn in eine bessere Welt tragen sollen – wo man seine ambitionierte, aber leider egale Kompositionskunst vielleicht mehr zu schätzen weiß. Wenn Corgan in »In Lieu of Failure« mit dünnem Shouter-Stimmchen irgendwo in der längst verödeten Brache zwischen Soundgarden und Stone Temple Pilots ganz einsam »Alone, alone, alone« barmt, hat man fast schon wieder Mitleid. Aber nur fast. (1.0)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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