Elektro-Pionier Jamie Lidell Ruf der Liebe
Der Herr Doktor war gar nicht begeistert. Völlig ruiniert seien sie, die Stimmbänder, schartig und mitgenommen und außerdem ständen sie auseinander wie ein Scheunentor, anstatt sich friedlich aneinander zu schmiegen. Wenn sie nicht schleunigst besser behandelt würden, wären sie bald womöglich gar nicht mehr zu gebrauchen, jedenfalls nicht für die Sorte Vokalakrobatik, mit der ihr Besitzer sein Geld verdient. Nein, da muss sich was ändern: Stimmbildung, Warmsingen, pfleglicher Umgang und nur noch gesunde Getränke.
Jetzt, ein paar Monate später, schlendert Jamie Lidell durch die frühsommerlich sonnige Mitte Berlins und tut, wie ihm geheißen. Er trinkt frisch gepressten Orangensaft und geht die Tonleiter rauf und runter. Die lädierten Bänder vorsichtig in Fahrt bringen für den nächsten Auftritt. Passanten drehen sich um. Sie denken: noch so ein Spinner mit Sonnenstich. Würden sie genau hinsehen, könnten sie erkennen, dass der Spinner große Ähnlichkeit hat mit dem Sänger, der im Sprung erstarrt abgebildet ist auf den Plakaten, die schon an der nächsten Kreuzung hängen. Doch niemand erkennt Jamie Lidell.
Das könnte sich demnächst ändern. Denn mit seinem aktuellen Album "Jim" ist Lidell, vormals Ikone der elektronischen Avantgarde, ein unverschämt eingängiges, geradezu betörendes Album voller Soul-Hymnen gelungen. Die zehn von ihm geschriebenen und gesungenen Songs fügen sich überraschend problemlos in die aktuell in den Charts grassierende, retrospektive Soul-Seligkeit. Ja klar, gibt Lidell zu, sein Sound ist dem von Amy Winehouse oder Duffy "schon ähnlich". Aber: "Mein Album ist besser".
Zumindest ist es, das muss man zugeben, nicht ganz so rückwärtsgewandt. Prinzipiell deckt Lidell auf "Jim" zwar ein Spektrum "vom Fifties-Rock'n'Roll bis zum Piña-Colada-Soul der Achtziger" ab. Aber man kann ihm im Gegensatz zur erfolgreicheren Konkurrenz, die peinlich genau die Klangatmosphäre der sechziger Jahre zu rekonstruieren versucht nicht absprechen, dass die jüngere Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen hat.
Denn mit dem in seiner Heimatstadt Brighton ansässigen Techno-Kollektiv Subhead und vor allem als Super-Collider im Duo mit dem Techno-Produzenten Cristian Vogel stand der mittlerweile 34-jährige Lidell bereits Ende der Neunziger an vorderster Front bei der Erforschung der akustischen Räume, die die neuen digitalen Technologien plötzlich eröffneten. Dabei war der studierte Mathematiker Lidell eine Ausnahmeerscheinung als Sänger, DJ und Produzent in Personalunion. In letzter Konsequenz dieser Ämterhäufung entwickelte er eine Methode, auf der Bühne die eigene Stimme zu samplen und live zu Rhythmus zu verarbeiten.
Zur Freude des Publikums setzt er dieses Alleinstellungsmerkmal auch heute noch bei seinen Auftritten ein. Aber der Einfluss der Maschinen ist mittlerweile weit zurückgedrängt. Für "Jim" hatte er wie gewohnt mit Synthies und Computer begonnen, nur um festzustellen, dass die Songs, die er geschrieben hatte, sich nach akustischen, lebendigen, ja durchaus auch altmodischen Klängen verzehrten.
Diesen, so Lidell, "Paradigmenwechsel" setzte er mit Hilfe von Freunden wie dem Feist-Produzenten Gonzales, der Electropunk-Ikone Peaches, dem peruanischen Schlagzeuger Alex Acuna oder der isländischen Cellistin Hildur Guðnadóttir um. Es entstand ein Album, das "zu 99,7 Prozent live eingespielt ist". Das wird nun auf der aktuellen Tournee von einer zu hundert Prozent aus Fleisch und Blut bestehenden Band umgesetzt.
Damit allerdings verstört Lidell seine alten Fans, die weiter zerhackte Beats und durchgeknallte Vokalkapriolen von ihm erwarten. Stattdessen singt er auf "Jim" trotz seiner, wie der Arzt meinte, "total abgefuckten Stimmbänder", nahezu annähernd so schön wie sein großes Vorbild Sam Cooke. Und schließt eine persönliche Entwicklung ab, die bereits auf seinem letzten Album "Multiply" vor drei Jahren begonnen hat. Diese Platte wirkt in der Rückschau nun wie ein Brückenschlag zwischen seiner elektronischen Vergangenheit und der souligen Gegenwart. Vor allem aber spricht ihr Erscheinungsdatum ihn von dem Vorwurf frei, nur nachträglich auf einen Zug aufspringen zu wollen, der längst an der Spitze der Charts angekommen ist. Vielleicht ist er ja "ein nostalgischer Pionier", lächelt er, wohl wissend, dass wohl kaum auch nur einer der Macher der mittlerweile zu Unzahl wachsenden Neo-Soul-Röhren mit seinem Oeuvre vertraut ist.
Schluss mit frankensteinartigen Musikmanipulationen
Trotz der Tatsache, dass er diesen Trend vorweggenommen hat, kann ihn Lidell nicht wirklich schlüssig erklären. Wahrscheinlich seien es die modernen Zeiten, die allgegenwärtige Virtualität, die Casting-Shows, die mit dem Computer hochgepitchten Stimmen aus dem Radio, "diese ganzen frankensteinartigen Musikmanipulationen", an denen er ja nicht ganz unwesentlich mitgearbeitet hat, die dafür gesorgt haben, dass "die Leute einfach mal wieder einen schönen altmodischen Song hören wollen".
Dass der überwiegende Teil dieser Menschen nicht seine altmodischen Songs hören will, sondern die noch altmodischeren Songs der Konkurrenz, das kann der Mann mit der dunklen Hornbrille nachvollziehen: "Ich hab einfach nicht die Voraussetzungen, weder das Aussehen noch die Drogenprobleme, um von der Boulevardpresse gewinnbringend ausgeschlachtet werden zu können."
Vom Kuchen, der gerade verteilt wird, will er trotzdem etwas abhaben. Die vorerst letzten avantgardistischen Experimente auf seinem ersten Solo-Album "Muddlin Gear" (2000) wurden zwar von der Kritik gefeiert, verkauften sich aber nur rund 2000-mal. Die anschließende Hinwendung zur universellen Sprache des Souls kam aber zuerst einmal aus dem Bauch heraus: "Es fühlte sich einfach richtig an in dem Moment." Eine Rückkehr zum Experiment will er auch nicht ausschließen, schon weil ihn momentan eine neue Software fasziniert, die ganz neue akustische Möglichkeiten eröffnet. Doch wenn erst einmal der aktuelle Schritt zu eingängigeren Songstrukturen "als praktische Nebenwirkung ein bisschen Geld erbringt", dann ist er darob nicht unglücklich.
Denn tatsächlich ist ein Dasein als musikalischer Pionier wenig einträglich. Nach gut sechs Jahren in Berlin hat Lidell nur noch ein Studio hier in Kreuzberg. Sein Zuhause ist momentan in Kisten verpackt und wartet auf die Überbringung nach Paris. Dort hat Gonzales, der gute Kumpel aus Berliner Tagen, mittlerweile goldene Schallplatten an der Wand hängen. Dort wartet aber vor allem eine Frau auf Lidell. Denn das wäre ja wohl noch schöner, wenn ein Soulsänger sein Leben der Karriere unterordnen würde, anstatt dem Ruf der Liebe zu folgen.
Jamie Lidell: "Jim" (Warp/ Rough Trade)
Live: 15.5. München, 16.5. Linz