Elektro-Pioniere Im Rausch des kalten Klangs
Ende der Siebziger erschreckten The Human League das Publikum von Iggy Pop. Damals waren die Elektroniker aus Sheffield im Vorprogramm des Berserkers aus Detroit auf Europa-Tournee. Die vier Briten sahen damals auf der Bühne aus, als hätten sie sich in der Veranstaltung geirrt: Akkurat gekleidet in Oberhemden und Anzugshosen verharrten sie nahezu bewegungslos hinter Synthesizern und Bandmaschinen.
Nur Sänger Phil Oakey stolzierte, geschminkt und mit Science-Fiction-Haarschnitt, über die Bühne und besang zu rumpelnden Beats die Trostlosigkeit der Moderne. Das verblüffte und überforderte Iggy-Pop-Publikum konnte damit wenig anfangen und schmiss Bierflaschen, grölte oder verließ zeternd den Saal. Einigen dämmerte aber auch, dass das, was The Human League da boten, radikaler, kompromissloser und frischer als aller Gitarren-Rock war.
Damals begann eine Revolution in der populären Musik. Synthesizer waren lange Spielzeuge der Eliten gewesen. In den Sechzigern kamen Synthies, damals so groß wie Kleiderschränke, erstmals in der Popmusik zum Einsatz. Aber weil die monströsen Geräte kostspielig waren und aufwendig in der Bedienung, war es nur wenigen vorbehalten, sie einzusetzen. In England nutzten vor allem sogenannte Prog-Rock-Bands wie Yes oder Emerson-Lake & Palmer Synthesizer. Aber mit den Jahren wurden die Synthesizer kleiner und deutlich preiswerter.
Als dann zur Mitte der Siebziger hin der Punkrock langsam in Fahrt kam, konnte man Synthesizer problemlos selbst bauen oder günstig erwerben. Damals legte eine junge Generation los, die Gitarren und Rock altbacken und öde fand und sich am kalten Klang der Elektronik berauschte. Besonders umtriebig war diese Szene in England.
Einlullende Musik zwischen Kitsch und Avantgarde
Das aufwendig und kenntnisreich kuratierte 4-CD-Set "Close To The Noisefloor" bietet nun eine fabelhafte Zusammenstellung der jungen britischen Elektro-Pioniere. Beleuchtet wird der Zeitraum von 1975 bis 1984. Neben einem begleitenden Aufsatz wird in dem ausführlichen Booklet jeder Track ausführlich vorgestellt. Die Spannbreite der gesammelten Sounds reicht von avantgardistischem Dioden-Geknarze über episches Schnurren bis zu potentiellen Radio-Hits.
Viele der Namen hier sind lange vergessen oder waren auch damals nur Spezialisten bekannt. Oder wer erinnert sich noch an Inter City Static? We Be Echo? Oder Those Little Aliens? Aber dokumentiert werden in der Anthologie auch kaum gehörte Frühwerke von Künstlern die später im Rampenlicht landeten; so wie OMD, Blancmange, John Foxx oder eben The Human League. Dazu kommen Elektro-Pioniere wie Attrition, Chris & Cosey, Portion Control und Thomas Leer, die längst Klassikerstatus haben.
"The Distance From Köln" heißt ein Song in dieser Sammlung, er verweist auf die Nähe vieler Künstler in England zu Geistesverwandten in Deutschland. Aus jenen Jahren gibt es auch den OMD Song "4-NEU", eine Verneigung der Band aus Liverpool vor den Avantgardisten aus Düsseldorf. Im Pop war Deutschland dem Rest der Welt eher selten voraus, aber in der elektronischen Musik war es tatsächlich mal so.
In den frühen Siebzigern saßen die Pioniere der synthetischen Klänge in Düsseldorf, Köln, München, Hamburg und Berlin. Krautrock wird die Musik von Musikern wie Klaus Schulze, Tangerine Dream, Popul Vuh, Kraftwerk, Ashra Tempel, Neu! und Cluster gern genannt, was aber Unsinn ist; mit Rock hatte sie nichts gemein, vielleicht half gerauchtes Kraut bei ihrer Entstehung.
Der Schweizer Thomas Kessler stattete 1970 sein Elektronik-Beat-Studio in Berlin Charlottenburg mit einem Synti-A aus, dem ersten tragbaren Instrument seiner Gattung, das der Musiklehrer aus London mitgebracht hatte. Bei Kessler versuchten sich dann die beeindruckten Musiker von Tangerine Dream, Ashra Tempel oder Agitation Free erstmals an dem Wunderding.
Klaus Schulze war mal Schlagzeuger bei Tangerine Dream, als die noch polternden Blues-Rock spielten. Aber Synthesizer krempelten sein Verständnis von Musik um. Alben mit vollelektronischer Musik wie "Irrlicht", "Picture Music", "Blackdance" oder "Moondawn", die Schulze dann als Solist in den Siebzigern einspielte und die nun überarbeitet und erweitert neu aufgelegt wurden, gelten weltweit als Klassiker des Genres. Kein Wunder, dass Schulze in England von Richard Branson unter Vertrag genommen wurde. Damals dehnte der gebürtige Berliner surrende minimalistische Melodien immer wieder auf bis weiter über 20 Minuten pro Track zu einer seltsam einlullenden neuen Musik zwischen Kitsch und Avantgarde.
Radikaler gingen die Berliner von Cluster ihre Kunst an. Die Band von Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius zerfaserte auf Alben wie "Cluster", "Zuckerzeit" und "Sowiesoso" lustvoll alle gültigen Rock-Klischees mit einer kühnen Mischung von Kunst und Krawall, die immer wieder mit elektronischen Elementen angereichert war. Das sorgte - mal wieder - in England für Aufsehen. Brian Eno nahm Kontakt auf und spielte zwei Alben mit Cluster ein. Die ersten acht Cluster Werke sind nun auf Vinyl in dem schönen Kasten "Cluster 1971-1981" zu haben. Ihr habe die "Zukunft gehört" sagte Brian Eno mal über die damals entstandene Musik. Das gilt bis heute.

Diverse:
Close to the Noise Floor
Cherry Red (rough trade); 4 CDs; 47,99 Euro.
CD bei Amazon: "Close to the Noise Floor"
Cluster:
Cluster 1971-1981
Bureau B (Indigo); 9 CDs; 95,99 Euro.
CD bei Amazon: "Cluster 1971-1981" von Cluster
Klaus Schulze:
Irrlicht
Mig (Indigo); 17,99 Euro.
CD bei Amazon: "Irrlicht" von Klaus SchulzeMoondawn
Mig (Indigo); 21,64 Euro.CD bei Amazon: "Moondawn" von Klaus Schulze
Picture Music
Mig (Indigo); 17,99 Euro.CD bei Amazon: "Picture Music" von Klaus Schulze
Blackdance
Mig (Indigo); 17,99 Euro.CD bei Amazon: "Blackdance" von Klaus Schulze