Album der Woche mit Elif Pressdruck auf der Tränendrüse

Keine deutsche Sängerin balanciert so cool zwischen Herzschmerz und Hip-Hop wie die Berlinerin Elif. Auf ihrem neuen Album übt sie das Augenzwinkern. Außerdem: Münchner Neo-NDW und Neues von Blur-Gitarrist Graham Coxon.
Sängerin Elif

Sängerin Elif

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Edgar Berg / Sony Music

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Album der Woche:

Elif – »Endlich tut es wieder weh«

Wie einfach sie es sich machen könnte, wenn sie wollte, offenbart Elif Demirezer in zwei komplett überflüssigen Songs am Ende ihres vierten Albums. Sie heißen »Ich denk an dich« und »Warum lügst du mich an« und erinnern am ehesten an jene Herzschmerz-Schlager-Massenware, die es leider allzu oft trotz größter Banalität in die Charts schafft: Frau wird verlassen, Herz blutet, Typ wird vermisst, auch wenn er ein Arschloch war.

Die beiden Songs sind nicht schlecht, sie haben gut funktionierende Hooks und elegante, sehr zeitgemäße Beats, denn Elif ist nicht nur eine Sängerin mit einer tief emotionalen, sehr wiedererkennbaren Stimme, sondern auch eine gute Songwriterin, vielleicht sogar eine der besten, die der deutsche Pop gerade zu bieten hat. Für sie sind solche Songs Fingerübungen, bei denen sich weniger talentierte Sängerinnen die Hand brechen würden. Album-Füller hätte man das in Prä-Spotify-Zeiten genannt. Anders gesagt: Mit 14 oder vielleicht auch nur zwölf statt ermüdenden 16 Songs wäre »Endlich tut es wieder weh« ein noch viel besseres Album geworden.

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Denn wie wiederum kaum eine andere deutsche Popsängerin beherrscht Elif den schwierigen Balanceakt zwischen Massenappeal und Street Credibility: Die 30-Jährige begann ihre Karriere als Kandidatin bei der TV-Castingshow »Popstars«, brachte zwei gediegene Deutschpop-Alben heraus gewann Preise und ging mit Peter Maffay auf Unplugged-Tour. 2020 erfand sie sich dann jedoch mit ihrem bisher besten Album »Nacht« als Emo-Rapperin neu und hatte im Duett mit Rapper Samra einen Top-Ten-Hit.

In ihren jetzt beat- statt gitarrenbasierten Liedern schrieb sie auch über ihre oft als Doppelleben empfundenen Konflikte als in Berlin geborene Deutschtürkin mit den konservativen Werten ihrer Eltern und der islamischen Kultur. Für ihren Auftritt beim Free European Song Contest 2021 auf ProSieben, wo sie ihr trotziges Lied »Alles Helal« aufführte, ließ sie sich ein blaues Auge schminken, um auf Gewalt gegenüber Frauen in der Türkei aufmerksam zu machen. Im selben Jahr nahm sie als Coach bei der Castingshow »The Voice of Germany« teil, letztes Jahr dann beim Popstar-Kuschelformat »Sing meinen Song«.

Anspruch oder Ausverkauf, Coolness oder Cashflow? Das waren also die Fragen, die sich vor der Veröffentlichung von »Endlich tut es wieder weh« stellten. Das Album will beides vereinen, so wie es auch bei Elifs erklärtem Vorbild Taylor Swift immer wieder gelingt. Ein unfairer Vergleich, natürlich.

Aber es gibt Momente, etwa in der überraschend swingenden, auf der Akustikgitarre gespielten Mörderballade »Mein Babe«, in denen die ewig schwermütige Protagonistin in Elifs Songs sich ein Augenzwinkern zutraut, eine schelmische oder sarkastische, wenn nicht anarchische Geste oder Bemerkung. Schon das wohltuend gegen jede Püppchenhaftigkeit rebellierende Albumcover signalisiert eine selbstironische Punk-Attitüde, die sich im Break-up-Nachtreten von »Wenn ich sterbe« entfaltet: »Ich hasse alles an dir, außer deinem Hund«, singt sie in dem Lied, das im Kern einen rotzigen Indierocksong enthält.

Ein ähnliches Hybrid ist zugleich auch das zentrale Stück eines Albums, auf dem es darum geht, sich des Trennungs- und Verletzungsschmerzes als Basis für Kreativität und Erfolg zu ermächtigen, sich vom Opfer männlicher Ignoranz zur souveränen Akteurin zu wandeln: »Sie singen meine Lieder, weil du mich nicht geliebt hast«, heißt es im aufgewühlten »Weil du mich nicht geliebt hast«: Wäre sie nicht verlassen worden, hätte sie nicht ihre Songs geschrieben und wäre kein gefeierter Popstar: »Du hast mich nicht geliebt, deshalb lieben mich jetzt alle.« Das kommt der emanzipatorischen, swiftschen Rache-Attitüde schon ziemlich nahe. An anderer Stelle wünscht man sich mehr female pressure statt Pressdruck auf die Tränendrüse.

Elifs größte Stärke bleibt die bittersüße Mitternachtsballade, die urbane Rapmotive und melodische Refrains verzahnt. Das zeigt ein anderes, gar nicht seichtes, sondern essenzielles Song-Doppel zu Beginn des Albums: In »Bomberjacke« und »Beifahrersitz«, zwei erfolgreich vorab veröffentlichten Singles, ist Elif noch einmal ganz nah bei ihrem existenzialistisch schwarz gekleideten Goth-Girl-Ich. Melancholisch durch die Straßen ihrer Stadt driftend, berauscht von romantischer Sehnsucht und Berliner Luft, die nach Vermissen riecht, sinniert sie den Gerüchen und Geistern ihrer prägendsten Gefühle nach, den Wunden, die Lebenshunger und Abenteuerlust in ihre Seele geschlagen haben – und formt daraus ihre emotional entwaffnende Schmerzmusik. (7.7)

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Kurz abgehört:

The Waeve – »The Waeve«

Blur-Mitgründer Graham Coxon wurde von Oasis-Boss Noel Gallagher einst als einer der talentiertesten Gitarristen seiner Generation bezeichnet, das ist nicht nichts, bedenkt man die einst legendäre Rivalität der beiden Bands in den Neunzigern. Umso überraschender, dass er hier nun auch am Saxofon zu hören ist, unter anderem im kunstvoll verkanteten Indiepopsong »Kill Me Again« oder der zwischen Sixties-Schmelz und Progrock taumelnden Ballade »You’re All I Want To Know«. Erstaunlich ist so einiges auf dem Debüt von The Waeve, einem gemeinsamen Bandprojekt von Coxon und Pipettes-Sängerin Rose Elinor Dougall. Schon »Can I Call You«, der erste Song, führt mit sanfter Anmutung auf falsche Fährten, bevor der Track in der Mitte in motorisch tuckernden Krautrock ausbricht. Coxons Faible für auch urigere Experimente der Sechziger- und Siebzigerjahre ist spätestens seit seinen Soundtrackarbeiten für die Netflix-Serien »The End of the F***ing World« und »I Am Not Okay With This« geläufig, daher sind Punk-artige Tracks wie »Someone Up There« eher die Ausnahme in einem Ambiente, dass seine Stimmungen aus den mit viel Modular-Synthesizern und Mystik aufgeladenen Folk-Experimenten von Sandy Denny oder John Martyn aus der Pink-Label-Ära von Island Records channelt. Gitarre (und die mittelalterliche Cister-Laute) spielt Coxon natürlich auch ausgiebig zu Dougalls Druidinnen-Gesang. (8.0)

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Young Fathers – »Heavy Heavy«

Auf die Idee, dass Alloysious Massaquoi, Kayus Bankole und G. Hastings, die drei schottischen Young Fathers, das alles allein im Heimstudio aufgenommen haben, würde man angesichts der westafrikanisch inspirierten, wilden Blockparty zu Beginn dieses Albums nicht kommen: »Rice«, »I Saw« und »Drum« stellen noch einmal eindrucksvoll unter Beweis, warum die Band als eine der einflussreichsten und originellsten der britischen Conscious-Hip-Hop-Szene gelten. Die drei Tracks zerren den Acid-Geist von Primal Screams »Screamadelica« mit schwitzigem Rhythmusdruck und Lagerfeuer-Chants aus der Thatcherismus-Erschöpfung der Spätachtziger – und verankern ihn in der depressiven gesellschaftspolitischen Gemütslage der Gegenwart. Der Albumtitel »Heavy Heavy« meint nicht nur die Bässe und Oldschool-Hip-Hop-Grooves, die hier zur Anwendung kommen, sondern auch die Schwermut nach zwei Jahren Pandemie, Brexit und Zukunftsängsten. »Give me a bulletproof vest«, heißt es im nervösen »I Saw«, und damit ist wahrscheinlich keine Defensivverteidigung gegen die Kritik an ihrer Unterstützung des Israelboykotts der umstrittenen BDS-Initiative gemeint, sondern die Erkenntnis, dass das Leben in den vergangenen fünf Jahren nach dem letzten Young-Fathers-Album nicht unkomplizierter oder unbeschwerter geworden ist: »My back’s still broken from life’s effect«, heißt es in »Holy Moly«. Doch auch mit gebrochenem Kreuz lässt sich raven, rütteln und lärmen, bis sich die verhärteten Sehnen wieder lockern. Wenn die Band mal durchschnauft, im sakralen »Tell Somebody« oder im Weltmusik-Schmonz von »Ululation«, lauert allerdings auch Coldplays (Schein-)Heiligkeit in diesem Northern Gospel-Soul. (7.5)

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Sham-e-Ali Nayeem – »Moti Ka Sheher«

Wie ihre Kollegin Moor Mother hat sich auch Sham-e-Ali Nayeem der Heilung historischer, postkolonialer Wunden durch Diskriminierung und Entwurzelung verschrieben. Die Texte der US-amerikanischen Muslimin mit indischen Wurzeln stammen auch auf ihrem zweiten Album größtenteils aus ihrem 2019 veröffentlichten Gedichtband »City of Pearls«, doch anders als zuvor geht es nun nicht mehr nur um die Feststellung von Schmerz, sondern um die Verarbeitung von Erinnerungen, Achtsamkeitsübungen und Hoffnung im diasporischen Gefühl. Klingt anstrengend und nach vertontem Social-Justice-Aktivismus, aber die Poesie von Nayeem hat nichts Pamphlethaftes, sondern flüstert Suggestives mit provokanter, sinnlich-hintersinniger Schärfe. Ein Höhepunkt des musikalisch an Elektronik-Pop und Trip-Hop von Anne Clark, Portishead oder Massive Attack orientierten Albums, unterstützt von Vokalistinnen wie Gabriela Riley und Tough Gossamer, ist »Goddesses And Doormats«: eine gepfefferte Replik auf die Aussage des machistischen Malermeisters Pablo Picasso, dass es »zwei Arten von Frauen gibt – Göttinnen und Fußabtreter«. »I feel reverence for the doormat«, sprechsingt Nayeem, »beautiful underdog«. Drei verschwörerisch pulsierende Minuten Respektsbeschwörung für das Göttliche in jeder Frau, egal wo und von wem sie auf der Welt missachtet und marginalisiert wird. (7.3)

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Wildes – »Klischee«

Auf die Bomberjacke, außen schwarzglänzend, innen knallrot, könnten sich Elif (siehe oben) und Wildes wahrscheinlich locker einigen, auch wenn sie aus musikalisch ganz unterschiedlichen Welten kommen. Jana Pantha und Jenny Tulipa kommen aus München und Zürich und machen schon seit sie 15 sind zusammen Musik. Ähnlich wie bei dem Attitüde-verwandten Duo Zucker aus Hamburg  hat es aber ewig gedauert, bis sie nun ihr erstes echtes Debütalbum veröffentlichen (es gab schon ein Minialbum vor ein paar Jahren). NDW ist ja ein sehr, sehr weiter Begriff, den die meisten – leider – mit Markus Mörl oder UKW oder anderen Fun-Stahlbädern verbinden. Wildes zitieren zum Glück die Post-Punk-Variante des deutschen Achtzigerjahre-Pop: Das elektronisch elegant gleitende »Konsum« erinnert an »Tango 2000« von Nichts, die biestigere »Leger in schwarz« eher an Unterkühltes von Ideal, »Schwarzes Gold« tanzt den Fetisch mit DAF. »Bellezza« und »Toccami« sind schelmische Italopop-Minimalismen. Klischees über die Art und Weise, wie Frauen Musik zu machen haben, werden hier von zwei Vollprofi-Vamps lustvoll mit markigen Gitarrenriffs und präzise schneidenden Synthie-Lasern zertrümmert. Außen coole Fassade, drinnen Raubtiergehege. (7.6)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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