Wie hätte der ESC werden können? Stabil rätselhaft

Ilia Prusikin
Armenien: Athena Manoukian - "Chains On You"
Klar, Athena Manoukian müht sich im klassischen Stiefel-statt-Hose-zu-Puffärmelbadeanzug-Powerlady-Ornat nach Kräften, doch die sie umschwänzelnden Panzerknacker-Cosplayer stehlen (haha!) ihr mühelos die Show. Man möchte sofort alles über diese vier wissen: Wohnen sie vielleicht alle zusammen in empfindlich beengten, immer wieder zu slapstickhaften Szenen führenden Verhältnissen in einer Bankräuber-WG? Scheiterte ihr monatelang minutiös geplanter großer Bruch eventuell daran, dass irgendwer den gemeinsamen Kajalstift aufgebraucht hatte und der traurige Reststummel nun nicht mehr dafür reichte, alle mit aufgemalter Waschbärbrille unidentifizierbar zu machen? Sind sie womöglich am allertraurigsten darüber, dass sie nun nicht die eigens einstudierte Synchron-Choreo für den Geldsack-Abtransport darbieten können? Man muss diese vier Racker einfach lieben.
Aserbaidschan: Efendi - "Cleopatra"
Irgendwann, in vielen, vielen Jahren, werden wir uns dieses Video ansehen und mit wohligem Schauder zentrale Elemente der aktuellen Pandemiefolklore wiedererkennen: Sängerin Efendi aalt sich in einer Wanne, offenbar randvoll mit coronakrisen-obligatorischem Bananenbrot-Teig (hier für flirrenden Glittereffekt mit Danziger Goldwasser verdünnt), sie betreibt vorbildliches Social Distancing bei einer einsamen Steppenwanderung, auch bei der anschließenden Tanzformation (die einem wegen des Sand-Settings das schöne Spice-Girls-Video zu "Say you’ll be there" zurück ins Zentralgedächtnis schippt) müht man sich um Abstand, schließlich wird sie von fetzenmäßig Bandagierten umgeben, die den Schamtanz der kopflosen Klopapierkäufer aufführen. Und Efendi findet sogar noch Zeit für ein bisschen Homeschooling: Sie klärt im Liedtext auf, dass es sich bei Kleopatras Lover um Mark Anton, den römischen Feldherrn, und nicht um Marc Anthony, den vermutlich eher unkriegerischen Sänger, handelte - Latein und Latin, da kann man schon mal durcheinander kommen. Wunderschön: Wie Efendi "Cleopatra" im Refrain eigentlich eher als "Cleopatbrrrra!" adlibiert.
Australien: Montaigne - "Don't Break Me"
Nein, einfach nein: Mit Clowns, diesen immer noch zu oft verharmlosten Gruselgrinsern, scherzt man nicht. Es gibt wirklich keinen Grund, sich ohne Not eine Halskrause umlegen zu lassen (wenn man kein frischkastrierter Hund ist) oder sich zwei kreisrunde rote Flecken auf die Wangen zu malen (wenn man nicht das Pokémon Pikachu ist). Strafmildernd kann alleine angeführt werden, dass die Sängerin Montaigne auf übergroße Clownsschuhe, ein lächerlich kleines Fahrrad und eine wasserspritzende Trickblume verzichtet hat. Eine rostige Hupe, bedacht eingesetzt, hätte ihrem Lied allerdings durchaus gut getan.
Bulgarien: Victoria - "Tears Getting Sober"
Es gibt zwei Sorten von Menschen: Die einen, die bei Victorias Performance empört das Hochnäschen kräuseln und finden, dieser Billie-Eilish-Abklatschversuch sei nun aber wirklich ein bisschen zu offensichtlich geraten. Und die anderen, die besorgt bemerken, Jenny Frankhauser, Katzenberger-Schwester und bis eben komplett verdrängte Dschungelcampkönigin von 2018, sehe hier aber wirklich ziemlich müde und auch ein bisschen traurig aus. Die Selbsthilfegruppe für alle, deren Hirn wie ein zielloser Pingpongball zwischen beide Gedanken springt, trifft sich immer Dienstag um acht an der hohlen Eiche.
Island: Daði og Gagnamagnið - "Think About Things"
Alles, alles an dieser Band, an diesem Video ist wunderbar. Die zeitlose Heavymetaldorfjugendlichenfrisur des Sängers, die Pixelporträts auf den Pullovern, überhaupt diese ganze supercoole Anticoolness, das kokette Zwinkerzwonker, der in seiner Trostlosigkeit überaus fröhliche Minimaltanz - und die Aussicht, dass wir diese Band, diesen Auftritt alle gemeinsam hätten lieben können. Seit der Zopfpeitsche aus Montenegro, die 2017 im Halbfinale scheiterte, war es nicht mehr so schade um einen Finalauftritt, der nicht hatte sollen sein.
Litauen: The Roop - "On Fire"
Den schönsten Clubtanz für Camp Trullatrulla liefert Vaidotas Valiukevičius, Sänger der litauischen Band The Roop: Nachdem man selbst in den vergangenen Wochen immer wieder peinlichst an diesem einen lustigen TikTok-Tanz scheiterte, bei dem man sich zu zweit immer schneller hopsend mit den Schuhsohlen antippt, scheinen die überkandidelten Schreinereien, Armpendel und stark vereinfachten Fortnite-Floss-Hüftkicks von Valiukevičius endlich wie eine bezwingbare Aufgabe. Schönstes Element: Wenn alle gemeinsam ab Minute 1:21 die Balzbemühungen einsamer Kronenkraniche nachstellen, um zehn Sekunden später wie verzweifelte aufgeblasene Tankstellen-Schlauchfiguren im Wirbelsturm herumzuwedeln. Für Connaisseure: Zwischendurch blitzt in der Choreografie auch ganz kurz der Yoga-Jesus, bekannt aus Take Thats traditionellem Tanz zu "Sure" auf.
Russland: Little Big - "Uno"
Aufgemerkt, gemeine Kinderschrecker! Dieses Video liefert erstklassiges Material für schwarze Pädagogik-Drohungen: Iss nicht so viel Wackelpudding, sonst kriegst du Glibberbeine wie die armen Leute von Little Big! Sämtliche männliche Mitwirkende empfehlen sich außerdem dringlich als Protagonisten in einem Wes-Anderson-Film über eine unrechtmäßig um ihre Wurfwerkzeuge geprellte Messerwerferdynastie. Der Mittelgescheitelte im pinkfarbenen Hemd ist übrigens auf jeden Fall Colin Farrell, lassen Sie sich nichts anderes erzählen.
Weißrussland: VAL - "Da Vidna"
Fragen Sie sich in fiebrig durchwachten Nächten auch manchmal, wie DJ Ötzi wohl Weihnachten feiert? Man kann ja nur mutmaßen, aber sehr wahrscheinlich trägt er auch am Heiligabend sein Calimero-mäßiges Schädeldeckelchen, unter das er sich zur Feier des Tages rundherum akkurat eine Lage Lametta klemmt. Also genauso wie Valeria Gribusova, Sängerin der Band Val, die in ihre Performance neben besagtem Kopfputz auch zahlreiche kesse "Durchgeguckt!"-Daumen-Zeigefinger-Kreise einbaut. Die Übersetzung des russischen Textes von "Da Vidna" lässt auch den Online-Übersetzer in wirrlogische Gedankenstrudel davonkreiseln: "Sie fragte, oh, warum wähle ich nicht den, den ich nicht gewählt habe?" Gute Frage, nächste Frage: Spielt die Zeile "Der scharfe Mond vereinte uns" wohl auf geteilte Nachbrenn-Beschwerden beim nächtlichen Toilettengang, verursacht von gemeinschaftlich genossenem, allzu pikant gewürztem Essen? Der Mensch mag sich mit seinen Wissenschaften das Universum und das Leben immer weiter entzaubern, der ESC bleibt stabil rätselhaft.