Eurovision-Stilkritik Parade der Pannen-Outfits
Beim Eurovision Song Contest schert man sich einen feuchten Kehricht um den dernier cri. Hier glänzen die dicken Strumpfhosen noch wie an den Sekretärinnen-Beinen der Achtziger. Die Damenschminke ist so dick, dass man darunter einschlafen könnte, ohne dass es jemand merkte. Hier haben Männer Haargelfrisen wie aus "Verrückt nach Mary". Hier findet man echte Häkeljäckchen - nicht das, was deutsche Großstädterinnen als pittoreskes Selfmade-Item auf die einschlägigen Internetseiten einstellen.
In Deutschlands ehemaliger Modehauptstadt Düsseldorf gilt also diese Woche das gute alte "Vogue"-Motto in leicht abgewandelter Form: "After it was in fashion, it will be recycled on stage." Es folgen die schönsten modischen Versuche des Eurovison Song Contest.
Alexey Vorobyov: "Get You" (Russland)
Russland denkt vielleicht, uns mit einem blendend-blonden Lächler und ein wenig Muskelmasse narren zu können. Und spekuliert darauf, dass die Musik eh keine Rolle mehr spielt, wenn ihr toller Tollenträger so viele Parallelen zu Shakin Stevens aufweist. Aber nicht mit uns. Wie schrieb Wladimir Kaminer einmal, und der muss es ja wissen: Wenn er, Kaminer, irgendwo in Deutschland Russengespräche belausche, redeten die Landsleute meistens über Waffen. Also was möchte Vorobyov mit "Ah oh, Im coming to get you!" sagen? Was führen die sich betont unauffällig im Hintergrund haltenden Tänzer in ihren unsichtbaren Westen-Innentaschen? Und vor allem: Welche Russenmafia-Tattoos bedeckt Vorobyovs Men-in-Black-Rockabilly-Kluft? Glauben die, wir hätten "Eastern Promises" nicht gesehen? Und bei "Im Angesicht des Verbrechens" gepennt? Ppphh! Wenn Vorobyov es schafft, dann ist ja wohl klar, wieso. Am besten man schweigt darüber. Sonst wird man zum Schweigen gebracht.
Jedward (Irland) - Dolle Tolle
Die Verkleidung ist bestechend: Stu-Stu-Studio Line von L'Oréal Locken verschärft gleicher Schnitt neuer Look. Und dazu Max Headroom-Gesichter und Pee-wee-Herman-Anzüge. Doch dahinter stecken die kleinen Síde-Jungs vom irischen Feenhügel. Auch wenn die irische Mythologie sich mit diesem der Modernität nachempfundenen Musikact große Mühe gibt in der Gegenwart anzukommen, weist allein der Schnitt der Kleidung, deren Farbe und die possierliche Art der Darstellung deutlich darauf hin, wes Geistes Kind die Jungs von Jedward sind. Nämlich die des Manannán mac Lir, des irischen Lokalgeistes, der sich ab und an auch als zwei Gaukler verkleidet, um hernach mit aufgetürmter Rockabilly-Tolle europäische Gesangswettbewerbe zu stürmen.
Blue (Großbritannien): Schnuteneunuch und Palituch
Rule, Britannia, du Übermutter aller Boygroups. Vier junge Männer sind ja an sich okay, aber Honey, who are you wearing? Hast du denn den von dir höchstpersönlich erfundenen Musikbusiness-Grundsatz nicht mehr im Ohr, dass jedes Mitglied einer vierköpfigen Boygroup einem unterschiedlichen Mädchengeschmack entsprechen muss? Na dann erklär uns mal Blue! Nicht nur, dass bandübergreifend öde schwarze Stoffe getragen werden, als ob es Londons legendäre Savile Row, in der der Sharp Suit erfunden und an schöne, ausgemergelte Körper vieler Limey-Stars und -Royals geschneidert wurde, nie gegeben hätte. Sondern zur Verwirrung sind die drei weißen der vier Jungs nur in minimalen Nuancen für ganz Aufgeweckte unterscheidbar: 1. Der mit dem Palituch-Verschnitt (Palituch!! In diesen Zeiten!), 2. der ohne Palituch, 3. der mit der Schnute und dem hohen Organ. Und eben 4. der dunklere mit Kajal. Dabei gibt es doch ein narrensicheres Erfolgsschema für die vier Teile eines Quartetts: 1. Der Mädchentyp, 2. der Intellektuelle, Sarkastische, 3. der Süße, der im Schatten von 1 und 2 steht und 4. der Clown am Schlagzeug. Falls auf unser Geheiß schnell umdekoriert werden sollte, hier der Tipp: Kajalauge wäre der Mädchentyp, Schnuteneunuch der Intellektuelle, der ohne Palituch der Schattensteher und der mit Palituch der Clown, was sonst. Es sei denn, er nimmt es ab. Aber dann kann man ihm ja eine rote Nase aufsetzen. Dass er tatsächlich Schlagzeug spielt, verlangt eh keiner mehr.
Homens da Luta (Portugal): Revolutionäre Pleitegeier
Portugal geht das ganze Bohei um den Songcontest am Popöchen vorbei. Komplett. Damit ist das niedliche Land voller Marienerscheinungen, Portwein und Pleitegeier das einzige, das sich weder in der Musik noch im Styling anbiedert: Wie eine Schultheatertruppe stehen die in Mottoparty-Siebziger-gekleideten Mitglieder von Homens da Luta auf der Bühne, um in einem fröhlichen Agitprop-Song und mit im Takt geschwenkten Parolen-Plakaten an Nelkenrevolution zu erinnern und auf Weltrevolution zu hoffen. Aber so süß die Idee ist, andere Länder haben ganz andere Verhältnisse zu eventuell weniger friedlich verlaufenen Revolutionen. Ähem, Portugal, wir sind hier nicht alleine! Der Osten hört mit!
Kati Wolf (Ungarn): Scharf am Donau-Strand
Doooooooooort drunt im schönen Ungarland / wohl an dem blauen Donau-Strand / da liegt das Land Magyar / da liegt das Land Magyar! Als junger Bursch da zog ich aus / ließ weder Weib noch Kind zuhaus / als Blankensteinhusar / als Blankensteinhusar! / Hey!/ Kati Wolf ist eine Puppe / Sieht aus wie ne Amibraut / Te-de-rei Te-de ra Te-de-rei Te-de-ra / Als Blankensteinhusar! / Hey! / Kati Wolf guckt zu viel Fernsehen / "Sex and the City" ist lang vorbei / Te-de-rei Te-de ra Te-de-rei Te-de-ra / Als Blankensteinhusar! / Hey!
Nina (Serbien): Lecker, Peggy Bundy
Man kann ja über Serben sagen, was man will: Einen Eyelinerstrich malen können sie. Uiuiui. Das ist mal ein Strich. Ein Strich wie im Poesiealbumspruch: "Dieser dicke Strich / erinnert Dich an mich." Über den Augen der süßen Nina, ein paar Zentimeter unter den Rändern dessen, was man früher (und in dörflichen Friseursalons immer noch) "frecher Kurzhaarschnitt" genannt hat, in der Presse auch als Twiggy-Frisi bekannt, prangt jene Eyelinerlinie, und macht viel her in Ninas Erscheinungsbild. Obwohl der Putz gleichwohl Edie Segdwick zitieren könnte, nur ist die so früh an Drogen gestorben. Dazu kommen Swinging Klamotten und eine Opart-Deko, die findige serbische Set-Dekorateure in einschlägigen Berliner Pop-Retro-Läden gekauft haben. Nina sieht aus wie eine Darstellerin aus einem Werbeclip, der in den Sechzigern spielt, etwa für Wodka. Oder wie aus einer Szene in einer US-Sitcom, in der das Set kurz verschwimmt, weil eine Rückblende eingeleitet wird, und Peggy Bundy knutscht 1964 an der Uni mit ihrem Jugendfreund. Ob die Serben mit ihrem sympathischen Retro-Fimmel, der sich konsequent musikalisch niederschlägt (aber Nina ist eben nicht Lulu!) über's Ziel hinausgeschossen sind, wird sich zeigen. Trotz teilweise anderslautender Behauptungen darf man sich das Gros der ESC-Zuschauer durchaus als schon-in-den-Sechzigern-schwer-aktiv-gewesen vorstellen. Vielleicht hilft's.
Glen Vella (Malta): Alle schöner als er
Beeindruckend am Video zu Glen Vellas moderatem Diversity-Eurodisco-Song ist der augenscheinliche Ehrgeiz, jedem der vielen dort mitspielenden Malteserinnen und Malteser ein schickeres Outfit als dem ollen Glen selbst zu schneidern: Dicke Drag-Queens mit tollen grasgrünen Glitzerfummeln, schöne Asiatinnen in geschlitzten Cheongsams, Preppys, Ballerinas, Menschen, die aussehen wie Galeristen alle tanzen mit Glen, der in seinem lahmen offenen Jeanshemd über dem zerrissenen Rockstar-T-Shirt aussieht, wie der litfaßsäulenübliche H&M-Hedonist. Dabei ist er nicht mal unsympathisch, wie er so Madonna-"Holiday"-mäßig herumhüpft, einen treu mit ellenlangen Wimpern anklimpert und im souligen Anastacia-Timbre verlangt, man solle ihn akzeptieren, wie er ist. Machen wir ja.
Poli Genova (Bulgarien): Warum sitzen die Mädels alle?
Talking of "Le mystère des voix Bulgares": Selten hat eine so geheimnisvolle Band am ESC teilgenommen wie Frau Genova und ihre MitmusikerInnen. Am Klavier, am Bass und am Modern Talking-Umhänge-Keyboard sitzen Damen, was mit Poli selber eine 4:2-Verteilung ergibt. In Quote und Gleichberechtigung das Soll übererfüllt, bleibt die Frage, wieso die Band hinter der Blonden mit dem Roxette-Schnitt, dem theatralischen Augen-Make-up und dem wie beim DJ-Job vergessenen Kopfhörer um den Hals eigentlich sitzt. Hatte man sich bei - wenn auch armseligem - Rock nicht auf Posen im Stehen geeinigt? In einer Art schwachem dramaturgischen Höhepunkt steht die Band dann auch irgendwann während des Stücks auf. Was inkonsequent ist, denn erstens bleiben Pianistin und Schlagzeuger bei diesem wichtigem "Aufstehen!"-Moment sitzen obwohl ja vor allem im Rockabilly tonnenweise Stehschlagzeuger und mit Jerry Lee Lewis auch veritable Stehpianisten als Vorbild dienen könnten. Zweitens darf der Gitarrist sich an einen Barhocker lehnen, was um Längen cooler als die komischen Stühle von Bassistin und Umhänge-Keyboarderin ist. Und drittens: Wieso Umhänge-Keyboard? Will man als Musikerin denn nicht genauso Groupies haben wie als Musiker?
Musiqq (Lettland): Abi-Party mit Deppenfrisuren
Jeder nette Lette hätte gerne eine nette Lettin zur Frau / und das weiß ja in Lettland jede Lettin genau.... Na, vielleicht klappt es nach der Show ja ein bisschen besser für Musiqq: Rechtschreibsicher scheinen die beiden süßen Buben nicht zu sein, aber darum ging's schließlich noch nie. Dafür tragen sie weiße Westen über schwarzem Hemd und Hose (an den weißen Turnschuhen muss man allerdings noch arbeiten, hätten es nicht Slipper getan?), der Gitarrist hat eine schnieke Hornbrille gefunden, die seinem Richtiger-Musiker-Image zugutekommt, und sogar, dass dem Sänger eine Deppenfrisur geschnitten wurde, ist zu vernachlässigen: Besser als die Ochsenknecht-Brüder sehen sie allemal aus. Lustig auch ihre hölzernen Mitschüler, die sich an den Backgroundmikros versuchen und ihre schicksten Schülerklamotten angezogen haben, eben das, was sie letzten Sommer bei der Abi-Party trugen. Hach, diese netten Letten.
Amaury Vassili (Frankreich): Asterix hätte auch gereicht
Einen "amtlieschen au" kann man in diesem Jahr Frankreich bescheinigen: Einen Sänger ins Feld zu schicken, der sich öfter durch die halblangen Haare fährt als Robert Pattinson (aber mit weniger effet), der auf Korsisch singt (kennt man hierzulande nur dank Asterix) und auch noch aus der Oper kommt, ist schon...mutig. Dazu die widersprüchlichen Modesignale, die Monsieur Vassili in seinem Video gibt! Jackett mit echten Knöpfen samt Knopflöchern am Ärmel, aber dann die ledernen Autofahrerhandschuhe nicht zugemacht?! Keine Krawatte? Immer diesen komischen Weekender über der Schulter baumelnd, in den anscheinend nur eine Jacke und eine Handvoll Hochglanzfotos reingehen? Was würde Joop dazu sagen? Offensichtlich trauert Monsieur um eine Liebe, die für immer von ihm gegangen ist. So lange, wie er da am Abgrund steht, muss man suizidale Tendenzen vermuten. Da ist dann doch verständlich, dass der traurige Korse nicht seine wirklich schönen Klamotten mitgenommen hat.
Eric Saade (Schweden): Abba-Erbe in schusssicherer Weste
Dass Schweden sich aber auch so gar keine Mühe gibt, in Musik und/oder Outfit an die erfolgreichsten ESC-Gewinner aller Zeiten anzuknüpfen: Kein Schlag-Overall weit und breit. Stattdessen trägt Eric Saade eine rote Lederjacke und nur einen Handschuh, weil er die Mikro-Hand beim Kampf mit Obi-Wan Kenobi verloren hat. Seine Brust muss er mit einer schusssicheren Weste schützen, denn militante Abba-Fans haben Vergeltung für die Missachtung der Gewinnersong-Kriterien angekündigt. Und in der Brusttasche von Erics Jackett steckt ein weißer Zettel mit dem ungemein schwer zu erinnernden Text seines Songs: "Don't say that it's impossible / cos I know it's possible / I will be popular / I will be popular / I'm gonna get there popular." Vielleicht steht aber auch nur drauf "Mein Name ist Eric Saade, ich habe gerade beim ESC versagt, bitte schicken Sie mich mit dem Taxi ins Hotel." Für den Fall, dass der junge Mann nach einer traurigen Platzierung die Nerven verliert und sich mit billigem Fusel tröstet.