Explizite Pop-Videos Porno mit Absicht

Darf man das zeigen? Die Band Is Tropical, am Sonntag zu Gast auf dem ADD-Festival von SPIEGEL ONLINE und tape.tv, provoziert mit Musikvideos voller Sex und Gewalt. Sie steht damit in einer langen Tradition der Pop-Geschichte.
Londoner Trio Is Tropical: "Natürlich ist das Absicht, was denn sonst?"

Londoner Trio Is Tropical: "Natürlich ist das Absicht, was denn sonst?"

Foto: Pias Cooperative

Kleine Kinder spielen mit Plastikspielzeug leidenschaftlich Räuber und Gendarm. Was aus erwachsener Perspektive putzig aussehen mag, sieht in der Vorstellung der Kinder ganz anders aus. Da spritzt das Blut, quellen Gedärme hervor, werden Kehlen aufgeschlitzt und Bomben gezündet - zu sehen im Video zu "The Greeks" von Is Tropical aus London.

Und die Sache wird kaum erträglicher dadurch, dass der Schrecken in Zeichentricktechnik über den Realfilm gelegt wurde. Harte, vielleicht sogar noch härtere Kost ist ihr Video zur Single "Dancing Anymore". Darin geht es um die grotesken Masturbationsphantasien eines Halbwüchsigen, vom französischen Regieteam Megaforce am Computer visualisiert. "Wir wollen machen, was andere Bands sich nicht trauen", sagte Gitarrist und Sänger Gary Barber im Interview: "Provokation." Damit steht die Band in einer interessanten Tradition.

Schon vor MTV war visualisierte Musik nicht beschränkt auf, sagen wir, einen lächelnden Elvis mit Blumenkette auf Hawaii. Schon die bewegten Bilder vom Punk waren alles andere als angenehm, und bald schon kippten Pink Floyd für "Another Brick In The Wall" Schulkinder am Fließband in den Fleischwolf.

Mit dem Musikfernsehen wurde das Video nicht nur zu einem willkommenen Werkzeug zum Marketing, sondern auch zu einer eigenständigen Kunstform. Wer sich in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit behaupten oder gar in die "Heavy Rotation" kommen wollte, der musste sich schon etwas Besonderes einfallen lassen. Kein Wunder also, dass Anleihen beim Pornofilm und im Horrorgenre getätigt wurden. Letzterem erwies vor allem Michael Jackson mit "Thriller" seine deutliche Reverenz. Ausgestrahlt wurde der Clip 1984 in Deutschland wegen seiner Zombie-Szenen erst nach 22 Uhr, aus dem Off war die Stimme von Gruselgroßmeister Vincent Price zu hören.

Nachhaltig verstörend ist beispielsweise der Clip zu "Come To Daddy" von Aphex Twin, bei dem ein Monster einem alten Fernseher entsteigt. Regie führte Chris Cunningham, der auch das bestürzende "Africa Shox" von Leftfield drehte und das Spiel mit beunruhigenden Bildern zu seinem Markenzeichen machen sollte. Sein makaberer Kurzfilm "Rubber Johnny" über ein behindertes und seine Form änderndes Kind basierte ebenfalls auf der Musik von Aphex Twin und wurde komplett mit einem Nachtsichtgerät gefilmt - die Druckerei boykottierte schon das Booklet des Videos.

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ADD-Festival 2013: Diese Musiker steigen uns aufs Dach

Foto: Henning Kaiser/ picture alliance / dpa


"Smack My Bitch Up" von The Prodigy wiederum zeigte eine exzessive Club- und Drogennacht aus der Perspektive des Protagonisten. 2001 präsentierte die Gruppe Tool mit "Schism" nicht nur ein musikalisches Monster mit 51 komplexen Taktwechseln, sondern auch ein dystopisches Video, ästhetisch angesiedelt zwischen "Alien" und "Frankensteins Monster".

Zuletzt sorgte mal wieder David Bowie mit der behutsamen Blasphemie von "The Next Day" für einen kleinen Skandal, Die Antwoord aus Südafrika wiederum spielten mit der krassen Erotik ihrer Rapperin ("Cookie Thumper") die Porno-Karte. Verweigerten früher Sender die Ausstrahlung, werden heute hin und wieder Videos bei YouTube gelöscht. So geschehen mit "Born Free" von M.I.A., in dem rothaarige Teenager exekutiert werden - oder eben "Dancing Anymore" von Is Tropical, das, kaum hochgeladen, schon wieder blockiert war. Der Band selbst ist diese Form der Zensur gar nicht mal so unrecht, wie Gary Barber einräumt: "Natürlich ist das Absicht, was denn sonst?"

Künstlerische Provokation will, wie der Name schon sagt, eine Reaktion hervorrufen. Entweder beim Publikum, der Kritik oder den Autoritäten; mal staatliche, mal kommerzielle wie früher MTV und heute YouTube. Je heftiger die Reaktion, umso höher die Aufmerksamkeit.

"Wenn Leute über das Video reden, ist das doch gut für uns"

In einer Ökonomie der Aufmerksamkeit ist das ein knappes und damit kostbares Gut. Wer auf dem Markt steht, kann lauter schreien als die Konkurrenten - oder sich entblößen. Niemand hat das besser verstanden als Madonna. Auf diesem Verständnis ist ihre ganze Karriere aufgebaut. Und nirgendwo lassen sich auch die natürliche Abnutzungserscheinungen der Methode besser studieren als an ihrem Beispiel. Inzwischen wird nur noch abgewunken, wenn Madonna mal wieder "an ein Tabu rührt". Und herumgesprochen hat sich auch, wie dünn bis dümmlich das Produkt dahinter ist.

Vielleicht ist auch einfach nur die Konkurrenz größer geworden. Heute kann eben schon mit einem Taschengeld produziert und Provokation damit diversifiziert werden. Die beteiligten Künstler empfinden diesen Umstand als Fortschritt: "Wir haben eben keine 50.000 Euro, um überall Anzeigen zu schalten", sagt Barber. "Wenn Leute über das Video reden, ist das doch gut für uns!"

Dass Aufmerksamkeit auch mit gewitzten und einfach originellen Clips erzeugt werden könnte, zeigt - im Guten wie im Schlechten - das Beispiel der Band OK Go. Deren Filmchen waren so gut, dass die Musik darüber ins Hintertreffen geriet. Eine solche Gefahr sieht Barber gelassen: "Bei YouTube hat jemand unseren Song hochgeladen, da gibt es nur das Cover zu sehen. Und das hat auch schon mehr als 100.000 Hits."


Alles zum ADD-Festival 2013:

Berlin Music Week/ Logo

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Am 8. September ist es so weit: SPIEGEL ONLINE und tape.tv veranstalten zum Abschluss der Berlin Music Week das "Auf den Dächern"-Festival, bei dem Popmusik und Panoramablick zueinander finden. Auf zwei Häusern in Berlin, direkt am Ufer der Spree, spielen Top-Acts und Newcomer, nationale und internationale Künstler. Egal, ob live vor Ort oder zu Hause im Stream - jeder kann beim ADD-Festival dabei sein. Wer mehr wissen will, sollte hier vorbeischauen: für mehr Infos, mehr Musik,für Fotos, Videos und Interviews - sowie die eine oder andere Überraschung.

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