
Pop-Künstlerin FKA twigs Heiliger Schmerz

Sechs gutartige Tumore hatte sich Tahliah Debrett Barnett, bekannt als Sängerin und Performance-Künstlerin FKA twigs, Ende 2017 aus der Gebärmutter entfernen lassen müssen. "Eine Obstschale voller Schmerz" nannte sie das seinerzeit in einem Instagram-Post, die Myome hätten die Größe und Form von zwei Äpfeln, drei Kiwis und ein paar Erdbeeren gehabt, schrieb die damals 29-Jährige.
Doch nur wenige Wochen später tanzte Barnett für einen Werbespot des Regisseurs Spike Jonze durch eine Apartmentkulisse, so vehement, dass ihre Operationsnähte wieder aufrissen. "Ich glaube, man kann es sehen. Ich sehe den Schmerz in meinem Gesicht, wenn ich mir den Clip anschaue", sagt sie Ende September im Interview in Berlin. Natürlich würde sie niemandem empfehlen, kurz nach einem solchen chirurgischen Eingriff einen solchen Kraftakt zu unternehmen, aber "so bin ich halt", lacht sie, "es war ein Beweis für mich, wie der Geist den Körper bezwingen kann".
Bis dahin war es Barnett gewohnt, stets die volle Kontrolle über ihre Physis zu besitzen. Die feingliedrige Tänzerin wurde 2012 in London auf der Straße entdeckt: Das Magazin "i-D" nahm ihr Foto als Sinnbild britischer Kreativ- und Jugendkultur aufs Cover. Seitdem ist Barnett nicht nur zu einer Mode-, sondern auch zur Popikone geworden. Ihre zwischen Elektronik und R&B changierende Musik wird ebenso gefeiert wie ihre künstlerischen Videos, in denen sie sich oft verstörenden Metamorphosen unterzieht. Jetzt erscheint ihr zweites Album "Magdalene", das ebenfalls von einschneidenden Veränderungen erzählt.
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21.04.2021 23.58 Uhr
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Die Krankheit empfand Barnett, die ihren Spitznamen bekam, weil ihre Gelenke früher wie dünne Zweige (englisch: twigs) knackten, als traumatisierend und kathartisch zugleich. "Allein, sich in Vollnarkose zu begeben und jemanden in deinem Körper herumgraben zu lassen, empfand ich als sehr traumatisch: Kompletter Kontrollverlust. Erst jetzt lasse ich dieses Trauma allmählich los", sagt sie, "aber da steht mir noch Arbeit bevor."
Barnett hat es nicht gerne, wenn andere Menschen, selbst aus ihrem engsten Umfeld, sie außerhalb ihrer Kunst als schwach oder verletzlich erleben, erzählt sie. In der Rekonvaleszenz-Phase nach der OP sei sie von Freunden und Familie umgeben gewesen, vor allem von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, "aber ich neige dazu, Dinge mit mir selbst auszumachen. Wenn ich glaube, etwas alleine schaffen zu können, dann mache ich das auch alleine."
So wie das Pole-Dancing, das sie für das Video zu ihrer Comeback-Single "Cellophane" erlernte und ihre Fortschritte auf Instagram dokumentierte - ein extrem diszipliniertes Ringen um die Hoheit über ihren Körper. Sie habe sich dafür eine der härtesten Übungen überhaupt ausgesucht, aber heute fühle sie sich stärker als je zuvor: "Ich habe gelernt, wie kostbar mein Körper ist", sagt sie, "und dass ich ihn noch besser machen kann".
Kurz vor dem physischen Trauma war auch Barnetts Gefühlswelt aus den Fugen geraten: Ihre Beziehung zum Hollywoodstar Robert Pattinson zerbrach trotz Verlobung, inzwischen ist auch ein mehrere Monate dauerndes Dating-Verhältnis mit Schauspieler Shia LaBeouf wieder passé. Natürlich spricht sie darüber nicht im Interview.
Aber Songs wie "Thousand Eyes" auf ihrem Album erzählen lyrisch verschlüsselt davon, wie es sich angefühlt haben muss, ständig unter Paparazzi- und Fan-Beobachtung zu stehen, "Holy Terrain" (mit Gastrapper Future) oder "Cellophane" handeln von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen des Schmerzes und der Seelenpein, die überschritten wurden, manchmal auch mit Lust und voller Absicht.
Sie habe durch die Erfahrungen der letzten Jahre zu einer neuen Ehrlichkeit ihrer Kunst gefunden: "Nicht, dass ich früher nicht ehrlich gewesen wäre, aber wie ehrlich mit sich selbst kann man mit Anfang Zwanzig sein - honest about what?", sagt sie mit einem verächtlichen Schnauben über die Naivität ihres jüngeren Ichs. Dreißig zu werden hingegen, sei für jeden Menschen eine unglaublich interessante Zeit, meint sie, für Barnett bedeutete diese Phase ein "Hineinwachsen in meine Weiblichkeit".
Die biblische Maria Magdalena, die auch ihrem Album den Titel gibt, sei dafür eine Inspiration gewesen. Schon als Kind sei sie fasziniert von den Widersprüchlichkeiten gewesen, die die Figur umgaben: "Meiner Erfahrung nach gilt: Wenn so viel über eine Frau gesprochen wird und sie so vehement verdammt wird, ist sie in Wahrheit eine ziemlich tolle Person." Im Sinnbild der "heiligen Hure" findet sie sich als emanzipierte, gereifte Frau wieder: "Warum kann ich nicht beides sein? Ich bin sowohl rein als auch sinnlich. Je mehr ich mich mit ihr beschäftigte, desto mehr fühlte ich mich versöhnt mit mir selbst", sagt sie.
Diese neu gefundene Souveränität drückt auch die nur vordergründig fragile Musik auf "Magdalene" aus. Als Produzent stand ihr der Elektronik- und Dance-Musiker Nicolas Jaar zur Seite, der ihren zuvor avantgardistisch-schroffen Sound in immer noch herausfordernde, aber auch gefälligere Klangstrukturen fasste. Mit R&B, einer Stilistik, der Barnett als Person of Color (ihr leiblicher Vater ist Jamaikaner) oft fälschlich zugerechnet wurde, hat diese Musik fast nichts mehr gemein: "Mirrored Heart" streckt sich danach, eine klassische Piano-Ballade zu sein, "Fallen Alien" spielt mit Industrial-Lärm und Minimal-Beats. "Sad Day" und "Mary Magdalene" klingen auch durch Barnetts mal flüsternde, mal flehende Singstimme wie Updates der folk-mystischen Kunstlieder von Kate Bush.
Es ist ein oft sakral und abgeklärt wirkender Pop-Entwurf, der am besten in einer Kirche zur Geltung kommen würde: Diese Musik, ahnt man, muss atmen und ihre Kraft in weiten Räumen entfalten, während sie dem heiligen - und heilenden - Schmerz von FKA twigs nachspürt.
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Pop-Künstlerin FKA twigs: Tahliah Debrett Barnett wurde 1988 in Cheltenham geboren, ihre Mutter ist Britin spanischer Herkunft, ihr Vater, den sie erst später kennenlernte, Jamaikaner.
Kunstwerk twigs: Barnett begann ihre Karriere als Tänzerin in Videoclips, u.a. für Kylie Minogue und Jessie J. 2012 nahm sie das Magazin "i-D" aufs Cover - als Sinnbild für Londons kreative Jugendszene.
FKA twigs beim Afropunk-Festival in Atlanta im Oktober 2019: Mit einigen EPs und ihrem Debütalbum "LP1" wurde Barnett zum Popstar und fälschlicherweise dem Post-R'n'B-Genre zugeordnet. Ihre Musik ist allerdings eher Elektronik-Pop mit jetzt auch klassischeren Strukturen.
Performance-Künstlerin FKA twigs (im Mai beim Red-Bull-Festival in New York): Ihre oft kunstvollen Videoclips gehören zum Gesamtkunstwerk dazu, oft inszenierte Barnett Metamorphosen ihres Körpers. Ihren Spitznamen erhielt sie in der Schule, weil ihre Gelenke wie dünne Zweige knacken.
Im Rampenlicht: Bis 2017 war die Sängerin mit dem Hollywoodstar Robert Pattinson liiert, danach folgte eine längere Dating-Phase mit Shia LaBeouf.
Künstlerin Barnett: Mit ihrem Album "Magdalene" veröffentlicht sie nach längerer Abwesenheit neue Musik.
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