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Folkpop-Ereignis: Dampf unter der Waldschratmütze

Foto: Fergus McDonald/ Getty Images

Fleet Foxes in Berlin Kinder der Krise, erhebt eure Stimmen!

Ist Chorgesang der neue Punkrock? Die US-Band Fleet Foxes, Superstars des neuen globalen Folkrock-Booms, gaben in Berlin ein gefeiertes Konzert - und ließen unter der Pracht ihrer Harmoniegesänge ein gehöriges Maß an Wut und Verzweiflung durchschimmern.

Seid mal leise! Hört Ihr die Flocken rieseln? 3000 junge Menschen halten den Mund, um dem "Helplessness Blues" zu lauschen, dem Titelsong des neuen Albums der Folkrocksupergruppe Fleet Foxes. Die Akkorde fallen sanft wie wattiger Schnee aus den Akustikgitarren, Sänger Robin Pecknold haucht dazu, dass er eine Schneeflocke unter Schneeflocke sein will.

Ist denn schon wieder Dezember? Pecknolds Bart wuchert ungezähmt im jungen Gesicht, auf dem Kopf trägt er eine dicke Wollmütze, ihm ist in der Hitze der brechend vollen Berliner Columbia-Halle, wo er mit seiner Band das erste von nur zwei Deutschlandkonzerten gibt, wohl tatsächlich ein wenig winterlich zumute. Damit es ihn nicht allzu sehr fröstelt, kleiden die fünf Mitmusiker seine Verzweiflungsbekundungen in warme Harmoniegesänge. Wer eine Stimme hat, das gilt auch für das Publikum, lasse sie erklingen!

Komische Szenen spielen sich ab, wo immer die Fleet Foxes ihre leise, verrätselte und doch unendlich verführerische Musik spielen. 20-, 30- oder 40-Jährige, aufgewachsen mit Punkrock oder Techno, stimmen in die wundersamen Folkchoräle der Band ein. In Berlin rangelten sich am Anfang noch die üblichen Rockkonzertstenze mit Bierbecher vor der Brust um die besten Sichtplätze, doch während des Konzerts singen auf einmal alle ganz andächtig die Hits der Band nach: Chorgesang ist der neue Punkrock.

Deine Stimme können sie dir nicht pfänden!

Angefangen hat das neue große Gemeinschaftssingen mit dem Debüt-Album der Fleet Foxes vor drei Jahren. Ein Trupp sehr junger Männer mit langen Haaren und langen Bärten, die angeblich direkt den Wäldern im Nordwesten der USA entstiegen waren, sangen zwei-, drei- und vierstimmig über Sonnenaufgänge, Wildkatzen und verlassene Waldhütten. Das war nicht wirklich neu, sowas hatte man die Jahre zuvor immer mal wieder in kleinen Clubs vor eingeschworenen Folk-Fans gehört. Auf einmal aber explodierte diese doch so leise Musik, wanderte aus dem intimen Rahmen der Cafés und Clubs in die ganz großen Hallen.

Nach den Fleet Foxes sind etliche ähnliche, allesamt grandios tremulierende Formationen in die öffentliche Aufmerksamkeit gespült worden. Etwa die Hobo-Brüder Felice Brothers, ein Trupp ausgemergelter, unfrisierter Jungs, gegen die der junge, ewig frierende Bob Dylan wie ein Wohlstandsknabe anmutet. Oder die Waldschrate von Bon Iver, die von langen aufreibenden Wintern in Wisconsin singen und dafür in den Rockarenen überall auf der Welt bejubelt werden, als ob sie ekstatischen Sex zur Aufführung brächten. Oder die Schwestern Unthank aus dem verödeten Nordengland, die mit Holzschuhtänzen und kunstvoll intonierten Arbeiterliedern aus dem vorletzten Jahrhundert als Poptsars gefeiert werden.

Klar, Folkrevivals hat es immer wieder gegeben. In den letzten zwei Jahren aber wurde das stille Lied auf einmal wieder richtig populär, zu einem kollektiv gefeierten Ereignis. Es befriedigt offensichtlich ein Bedürfnis, das weit darüber hinausgeht, sich ein paar Minuten von einer schönen Melodie einsalben zu lassen. Um es deutlich zu sagen: Die Fleet Foxes und all die genannten Bands haben den größten Folkboom seit 1929 ausgelöst, dem Jahr der Weltwirtschaftskrise, in dem die zur Wandergitarre gesungenen Beschreibungen des einfachen und entbehrungsreichen Alltags ihre erst narrative Ausformung erhalten haben.

Wut unter der Wollmütze

Dass das Genre ausgerechnet 2008, dem Jahr, in dem die letzte Weltwirtschaftskrise ihren Anfang nahm, eine neue und bis heute anhaltende Blüte erlebte, dürfte kein Zufall sein. Schließlich steht der Folk für eine über jede wirtschaftliche Bedrängnis erhabene Ausdrucksform: Sie können dir alles pfänden, das Klavier, die Gitarre, sogar dein Tamburin oder deinen Schellenkranz - aber deine Stimme, die können sie dir nicht nehmen!

Wir wissen nicht, wie es um die 3000 Besucher des Fleet-Foxes-Konzerts am in Berlin bestellt war, ob es sich um Studenten ohne Hoffnung auf einen vernünftigen Job handelte oder um Medienarbeiter, die diesen eben gerade verloren haben, aber man sang aus voller Kehle mit. Und das, obwohl die Songs des neuen Albums "Helplessness Blues" viel verdrehter als die des Vorgängers sind - und sich unter der melodischen Pracht, die am Mittwoch so reizend und versöhnlich mit Klavier, Flöten, Glöckchen und anderem Hausmusikinstrumentarium erzeugt wird, so manche bittere Sentenz verbirgt.

Wenn Ensembleleiter Robin Pecknold da handzahm seine Songs unter seiner Wollmütze darbietet, kommt man gar nicht darauf, dass es in ihnen um soziale Notlagen geht. So handelt auch der eingangs zitierte "Helplessness Blues" in Wirklichkeit eben nicht davon, eine Schneeflocke unter anderen zu sein: Geradezu aufbrausend sang Pecknold nämlich am Mittwoch die eigentliche zentrale Zeile: "And now after some thinkin' I'd say I'd rather be a functioning cog in some great machinery." Ein Rad in irgendeiner Maschinerie - oh Gott, will er das wirklich sein?

Bei aller Sanftmut vermittelten die Fleet Foxes in Berlin eine recht kämpferische Haltung. Kinder der Krise, erhebt Eure Stimmen!

Einziges weiteres Fleet-Foxes-Konzert in Deutschland am Donnerstag in Dachau

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