Frankreich beim ESC Le Schmalz, c'est moi!
Sehen so Siegertypen aus? Amaury Vassili heißt der ausnehmend gut frisierte Vertreter Frankreichs, der in diesem Jahr der Heimat von Edith Piaf und Daft Punk mit seinem Wuchtgesang "Sognu" (korsisch für "Traum") einen der vorderen Plätze verschaffen soll. Damit hatte in der Vergangenheit sogar Patricia Kaas ihre Probleme, doch die Zeiten haben sich geändert: Wo eine naturreine Lena gewinnen kann, da ist auch Platz für klassische Sangeskunst mit Opernflair.
Vor 21 Jahren im nordfranzösischen Rouen geboren, gehörte Amaury Vassili in seiner Heimat mit zwei Alben bereits zu den erfolgreichen Künstlern, als ihn die nationale Jury als Vertreter 2011 beim Song-Wettbewerb erwählte. Als Backgroundsänger von Natasha Saint-Pierre vertrat er Frankreich bereits 2001 beim Song Contest, kann also so etwas wie Eurovisions-Erfahrung vorweisen.
Anständige Stimme, durchweg überarrangiert
Obskur bleibt allerdings in seiner Vita, was ihn als Opern- bzw. Konzertsänger qualifiziert, denn seine Alben enthalten eher pompösen Breitwand-Pop als Klassik. Das Etikett "jüngster professioneller Tenor" wirkt daher wie der verzweifelte Versuch, so etwas wie einen "Unique Selling Point" zu konstruieren. Unter Tenören ist Jugend ja ohnehin kein Verdienst, sondern eher ein fadenscheiniges Etikett. "Beaujolais Primeur", wenn man so will.

Allerdings hat Amaury Vassili eine anständige Stimme mit sanft metallischem Höhenschimmer, die in den hochpathetisch überarrangierten Stücken seines jüngsten Albums "Canterò" (Warner) aber ständig ans Limit gepusht wird. Zwischen Schicksalspauken und Mandolinen-Tremoli wabern wohlbekannte Melodien. Kein Wunder, schließlich haben Song-Schreiber wie Zucchero, Toto Cotugno und Lucio Dalla daran mitgearbeitet, die Ende der Siebziger dem Italo-Pop neues Profil gaben. Frankreich-Italien: Die Achse des Pompösen steht fest.
Tatsächlich entblödet sich der Vokal-Youngster nicht, sogar das tödliche "Con te partiro" ("Time to say goodbye") zu intonieren, zu dem weiland Henry Maske seinen Abschied nahm. Dazu eine dumpf produzierte Version von Michel Legrands "Windmills of your Mind", die auch den letzten wachen Hörer endgültig ins Land der tristen Träume befördert.
Joseph Lacalles "Amapola" dagegen ist Operette pur und kein Fauxpas. Schmalzverklebte Gassenhauer der "Sole Mio"-Schiene machen eben Spaß und lassen die Fans außer Rand und Band geraten. Schließlich ist das traditionsverliebte Opernpublikum ein Nörgelverein, der seinen Stars allenfalls Respekt bekundet, in aller Regel aber alles schon besser gehört hat und gern den Daumen senkt, wenn eine Cavatine nicht souverän gesteigert über die Rampe perlt.
Neue Authentizität ist angesagt
Von diesem Belcanto-Stress will Amaury Vassili nichts wissen. Seine Welt sind derzeit weder Verdi, Puccini noch Mailänder Scala, lieber peilt er das Stadion an. Und dafür kann der Eurovision Song Contest die ideale Startrampe sein.
Verdienstvoll ist immerhin: Vassili hält die Fahne des klassischen Grand-Prix-Pop hoch, ein Banner aus fernen Zeiten, als England stets Favorit war, Österreich Letzter wurde und Italien und Frankreich heftig um den dritten Platz konkurrierten. Tempi passati, seit Europa so verdammt groß und der Ex-Ostblock so verdammt einflussreich geworden ist.
Aber womöglich ist ja auch der artifizielle Stampf-Pop aus dem neuen Osten mittlerweile Geschichte. Siehe Lena: Neue Authentizität ist angesagt. Vielleicht schlägt ja ein klassisch ausgebildeter Sänger, der obendrein manierlich-schwiegermutterfreundlich aussieht, da genau die Brücke, die 2011 zum Erfolg führt?
Leider hat Amaury Vassili aber nicht den richtigen Titel dafür. "Sognu" verleiht keine Flügel. Der Song beginnt wie Vangelis' Columbus-Hit "Conquest of Paradise", mäandert dann stilistisch irgendwo zwischen Ennio Morricone und Nino Rota, in der Mitte gibt's einen seltsamen Coitus interruptus, der das eigentliche Finale vorbereiten soll. Dann schwingt sich der Tenor doch noch zu einem opernhaft dramatisierten Höhenflug auf, ein keuchender Kraftakt. Dass den Hörer so viel Aufwand so kalt lässt, liegt an einem alten Fehler: mit viel Arrangement den minimalen Ideenfluss ausgleichen zu wollen.
Die Prognose für dieses Pop-Patchwork mit blassen Farben: solides Mittelfeld. Falls Vassili jedoch gewinnt, kann auch Deutschland hoffen. Dann schicken wir 2012 unsere Tenor-Weltstars Jonas Kaufmann oder Klaus Florian Vogt ins Rennen und räumen richtig ab. Die sind zwar Greise im Vergleich zu dem Jungspund - sie können aber sogar Wagner.