
Zum Tod von Gerry Marsden Wie »You'll Never Walk Alone« zur Fußball-Universalhymne wurde
Der Song ist langsam, melodisch schwierig und verlangt vom Sänger die Lunge eines Dudelsackspielers – und doch ist »You'll Never Walk Alone« die populärste Sporthymne der Welt. Die Geschichte eines Songs.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Jahre 2016. Aus Anlass des Todes von Gerry Marsden, der mit seiner Gruppe Gerry and the Pacemakers die berühmteste Version von »You'll Never Walk Alone« sang, veröffentlichen wir ihn an dieser Stelle erneut.
Eigentlich ist »You'll Never Walk Alone« kaum dafür geeignet, von Zehntausenden Menschen im Chor gesungen zu werden: Lähmend langsam erklimmt man in ungewohnten Stufen die Tonleiter.
Jetzt aber, denkt man immer wieder, jetzt gehts richtig los, oder?
Oder jetzt?
Jetzt?
Vielleicht jetzt?
Nein, tut es nicht. Die Melodie von »You'll Never Walk Alone« ist wie eine endlose Rampe, die mit Kraft und Schweiß erstiegen werden will. Im Stadion überlappen und überlagern sich dann mitunter die Zeilen zu einem gregorianisch anmutenden Murmel-Sang, bis dieses lautstarke, verschwurbelte Gesinge die riesige Betonschüssel klingen lässt wie eine völlig verhallte Kathedrale.
Wenn man schließlich diese Qual beenden und die namensgebende Zeile herausschreien darf, kommt das einer Befreiung gleich. Da summieren sich die Stimmen wieder zu einer Einheit, einem perfekten Chor, bei dem endlich jeder Ton und Melodie trifft: »You'll Neeeeeeeeeeeeeever Waaaaaaalk Ahaaaloooooooooooooooone!«
Das hat nichts mit dem üblichen Muster von Strophe und Refrain zu tun – es ist eher wie ein Schrei mit langem Anlauf. »WTF?«, sagt der Sportfan da auf Neuhochdeutsch: Wie hat dieses unhandliche Ding jemals zur populärsten Fußballfanhymne der Welt werden können?
Antwort, Teil 1: Weil es die erste war
Wie jede gute Fußballhymne hat auch »You'll Never Walk Alone«, von heutigen Fans salopp zu »YNWA« abgekürzt, seine Legende. Erstmals 1945 veröffentlicht, war es ursprünglich nicht mehr als der finale Song im Musical »Carousel« von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II. Es ist Julie, die schwangere Witwe, der mit dem Lied Mut gemacht werden soll – weil doch ihr verblichener, auf Abwege geratener Liebster Billie ewig über sie und ihr gemeinsames Kind wachen wird.
YNWA, das bedeutet: Hab Hoffnung, was auch immer passiert, du wirst niemals allein sein!
Was erst einmal absolut nichts mit Fußball zu tun hat. Bis am 2. Juli 1963 Gerry and the Pacemakers die erste Coverversion des Songs veröffentlichten (seitdem folgten über 100 Aufnahmen von Künstlern von Frank Sinatra und Doris Day über Pink Floyd bis zu den Toten Hosen).
Was dann geschah, ist höchst umstritten.
Die beliebteste Legende geht so: Vor den Spielen des Liverpool FC an der Anfield Road war es schon Anfang der Sechzigerjahre üblich, dass die Fans mit aktuellen Hits beschallt wurden. Dazu gehörte 1963 auch »You'll Never Walk Alone«. An einem Spieltag, so die Geschichte, sei die Lautsprecheranlage ausgefallen – und die Fans hätten den Song spontan einfach weitergesungen. Das hätten sie umgehend zum Ritual gemacht, die Klubleitung erklärte das Lied bald darauf zum Klubsong.
Eine schöne Geschichte, die nur einen Haken hat: Es war Gerry Marsden, der Leadsänger der Band, der sie einer Gruppe von Lokalreportern erzählte, die gerade nichts anderes zu berichten hatten. Erst die Presseberichterstattung über das »Fanlied« brachte der Band Medienauftritte mit eben diesem Lied ein. Die Manager der Band hatten den Song eigentlich gar nicht produzieren wollen – weil er ihnen zu lahm war.
Wurde YNWA also zum Hit, weil es Fansong war – oder wurde es zum Hit und Fansong, weil Marsden das einfach behauptet hatte? Man weiß es nicht: Tatsache war aber, dass die Fans der Anfield Road irgendwann 1963 begannen, das Lied bei jedem Heimspiel zu singen. »You'll Never Walk Alone« wurde damit zum Prototypen der Fanhymne, zu einer Zeit, als so etwas absolut noch nicht üblich war.
Das allein machte das Lied jedoch noch nicht zur weltbekannten Universalhymne aller Fans.
Antwort, Teil 2: Weil es die richtige war
Der zweite Teil der Erfolgsgeschichte ist zutiefst tragisch. Nicht nur sein Tempo ist ja elegisch: Auch der Text ist nichts anderes als eine Ermutigung zum Durchhalten in finsterster Stunde, selbst im Angesicht des Todes.
Hier die Übersetzung:
»Wenn du durch einen Sturm gehst
Halte deinen Kopf hoch und fürchte die Dunkelheit nicht
Am Ende des Sturms wartet ein goldenes Licht
Und der süße, silberne Sang einer Lerche
Geh weiter durch den Wind, trotze dem Regen
Auch wenn deine Träume zerrissen und fortgeweht werden
Geh weiter, geh weiter mit Hoffnung im Herzen
Und du wirst niemals allein gehen
Du wirst niemals allein sein«
Am 11. Mai 1985 brach bei einem Spiel zwischen Bradford und Lincoln City ein Feuer auf der Tribüne aus. 1886 erbaut, galt die nicht zuletzt wegen ihres hölzernen Daches schon länger als überaltert. An diesem Tag wehte ein kräftiger Wind hinein und verwandelte den Bau in katastrophal kurzer Zeit in eine Flammenhölle. 56 Menschen verloren ihr Leben, mindestens 256 wurden teils schwer verletzt – die Katastrophe erschütterte die Fußballwelt.
Es war Graham Gouldman, der Bassist der Band 10cc, der Gerry Marsden dazu überredete, zugunsten der Überlebenden und Hinterbliebenen noch einmal seinen Hit von 1963 einzusingen: Die Version der 50-köpfigen Charity-Allstar-Band The Crowd landete umgehend auf Platz eins der britischen Charts – und machte das Lied endgültig weltbekannt.
»You'll Never Walk Alone« wird in Liverpool noch immer vor jedem Spiel gesungen, zahlreiche andere Klubs haben die Hymne für sich übernommen (in Deutschland z.B. Borussia Dortmund und Mönchengladbach, Alemannia Aachen, Darmstadt 98, der FC St. Pauli und weitere Ligaklubs, dazu andere Teams aus anderen Sportarten).
Vor allem aber wird YNWA heute weltweit von Fußballfans immer dann gesungen, wenn Schlimmes passiert, Mut gemacht werden muss: Das Lied ist die Hymne der absoluten Solidarisierung, der Treue zueinander im Guten wie Bösen. Das hat »You'll Never Walk Alone« zur Universalhymne gemacht, die von allen Fans gesungen werden kann, aller Konkurrenz zum Trotz.
Der am 3. Januar 2021 im Alter von 78 Jahren verstorbene Gerry Marsden aber, der einst als Popstar angetreten war, wird wohl für immer mit den großen, traurigen Fanhymnen verbunden werden.
Als am 15. April 1989 bei der Hillsborough-Katastrophe 96 Liverpool-Fans zu Tode gequetscht wurden und 766 verletzt, suchte man einmal mehr nach einem Lied, um Hilfsgelder zu sammeln. Marsden, begleitet von Paul McCartney, Holly Johnson und anderen, sang sein erstmals 1964 veröffentlichtes »Ferry Cross the Mersey« noch einmal – und landete wieder, ein letztes Mal, auf Platz eins der Charts.