
Neues Grönemeyer-Album Der deutsche Seelensänger
Ein bisschen unglückliches Timing ist es ja schon, wenn die deutsche Version des Ebola-Hilfe-Songs "Do They Know It's Christmas" am selben Tag wie das neue Herbert-Grönemeyer-Album erscheint, am kommenden Freitag nämlich. So sind zwar fast alle deutschen Popstars dabei, um mitzusingen und mitzumachen: Campino, Max Raabe, Jan Delay, Thees Uhlmann, Haftbefehl, Marteria, Wolfgang Niedecken und noch ein paar andere. Nur der eine deutsche Sänger, der wirklich etwas zu sagen hat, der fehlt - Herbert Grönemeyer.
Denn das ist er, im Guten wie im Schlechten. Der einzige deutsche Soulsänger, Seelensänger, wenn man genau ist. Seiner Seele und der Seele der Deutschen. Und am Dienstagabend, während die anderen Popstars ihrem Afrika-Hilfe-Lied in irgendeinem Berliner Studio den letzten Schliff gaben, stellte Grönemeyer der geneigten Öffentlichkeit "Dauernd Jetzt" vor, sein 14. Album. Im Berliner Restaurant Grill Royal, einem Steakhaus direkt an der Spree, das sonst von reichen Kunstsammlern besucht wird und Leuten, die sich in Gegenwart von reichen Kunstsammlern wohl fühlen - und was sich dadurch nicht sofort als Ort für die Vorstellung eines Grönemeyer-Albums qualifiziert, selbst wenn man sich den Sänger schon lange nicht mehr als den verkumpelten Reviersänger von "Bochum" vorstellt.
Aber das ist nun auch schon 30 Jahre her. Tatsächlich ist Grönemeyer schlicht einer der letzten deutschen Popstars, der solche Umsätze generiert, dass eine Plattenfirma auf die Idee kommt, für die leitenden Angestellten des Hauses, die Presse und andere Gäste viel Geld für Champagner und teures Fleisch auszugeben. Und das bekommt man im Grill Royal.
Wer zuerst blinzelt, hat verloren
Es hat immer etwas Eigenartiges, in Gegenwart eines Künstlers seine neue Musik vorgespielt zu bekommen, vom Künstler dabei beobachtet zu werden, wie man ihn beobachtet. Es ist ein bisschen wie im Western: Wer zuerst blinzelt, hat verloren. Grönemeyer umgeht das Problem elegant, indem er den Laden erst betritt, als die Musik vorbei ist.
"Dauernd Jetzt" ist nicht die Neuerfindung des Grönemeyer-Albums, sondern eine solide Mischung aus hingerummstem Deutschrock, der großen Pianoballade ("der Franz-Schubert-Moment" sagt jemand am Tisch, "Verloren" heißt das Stück, es könnte auch mittlerer Elton John sein) und einem überraschenden Elektroniktrack, der ganz ohne Text auskommt. Er ist Überbleibsel aus einer Filmmusik, die der Sänger komponiert hat. Getragen und zusammengehalten von Grönemeyers unnachahmlicher Stimme, mit ihren Sprüngen zwischen laut und leise, den verschluckten Silben und dem Stakkato, in dem er manchmal die Worte ausspuckt.
Ein Gefühlsgemälde des deutschen Emo-Haushalts
Es gibt eine Neuerung: Wenn Grönemeyer bislang im Wesentlichen drei Arten von Songs geschrieben hat, wie Thomas Groß einmal in der "Zeit" geschrieben hat, die Ihr-Lieder, in denen er Missstände anprangert, die Ich-Lieder, die von Bekenntnis und Einkehr handeln und die Du-Lieder, in denen es um Liebe und das Austeilen von Lebensweisheiten geht, dann kommt auf "Dauernd Jetzt" ein neues Modell dazu: das Wir-Lied.
"Unser Land" heißt es, es ist genauso eigenartig wie die deutsche Selbstliebe, ungelenkt, gefühlvoll, vergrübelt, ehrlich und widersprüchlich. Ein Gefühlsgemälde des deutschen Emo-Haushalts 2014. "Neu deutsch" reimt sich auf "der Laden läuft"; "scharf rechts" auf "sofort wird mir wieder schlecht"; "Plan und Angst" auf "glücklich wer aus der Reihe tanzt"; "arm, reich" auf "die Schere auseinanderreißt". Alles Deutsche ist da: die ewige Sorge um die Vergangenheit, das Effizienzdenken, die German Angst, das Feiern des Querdenkertums und der Wohlfahrtsstaat beziehungsweise die Befürchtung, es könnte mit ihm zu Ende gehen. Das muss man erst mal in vier Minuten unterkriegen. Ziemlich großartig.
Wie wir sind
Und dann redet Grönemeyer. Er finde, das Internet sei eine der großen Erfindungen der Menschheit, sagt er einem Frager bei der improvisierten Pressekonferenz, er habe aber trotzdem Bedenken, wenn er sehe, wie sehr es die jungen Menschen zum Exhibitionismus verführe. Der Künstler und seine Kunst, sagt er einem anderen, müsse wertgeschätzt werden, deshalb werde "Dauernd Jetzt" auch nicht bei Spotify gestreamt werden. Die Leute sollten nicht glauben, alles sei umsonst. Als Land, jetzt, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, müssten wir langsam mal erwachsen geworden sein. Es bringe nichts, immer nur über die Politiker zu schimpfen. Irgendwann müssten wir doch mal anpacken und Verantwortung übernehmen. Aber die Westdeutschen hätten auch vieles falsch gemacht, und seien nicht immer fair zu den Ostdeutschen gewesen, weshalb er den Groll vieler Älterer im Osten verstehen könne. "Dauernd Jetzt" heiße die Platte, weil man sich auch mal am Moment freuen können müsse.
So hätte es noch endlos weitergehen können, weil sich dem grundsympathischen Grönemeyer auch überaus angenehm zuhören lässt. Es ist natürlich eine Reise in das Unbewusste des deutschen Mittelstands, der Schicht, die dieses Land und seine Künste im festen Griff hat. Worüber sich trefflich lästern lässt, was aber auch viel mit der Stabilität und dem Wohlstand der Bundesrepublik zu tun hat.
So sind wir nun mal. Wer es abstreitet, lügt sich in die Tasche.