Der britische Rave-Sommer "Die Menschen wollen tanzen"

Der Anti-Establishment-Geist der Raves ist fester Teil der britischen Popkulturgeschichte
Foto: Julia SmirnovaDer Ort wird in der Regel gegen elf Uhr abends bekannt gegeben: eine Postleitzahl oder ein Screenshot von Google Maps mit einer Wegbeschreibung. Manchmal ist es ein Wald in der Umgebung von London, manchmal ein Park oder wie an diesem Samstag im Juli eine Lagerhalle im Südosten der Stadt.
Das Industriegelände liegt in der Nähe eines verschlafenen Vororts. Nach Mitternacht hält ein Auto nach dem anderen, ein Wachmann am Tor schaut die Gäste kurz an und lässt sie herein. In einem Vorraum ist eine improvisierte Bar aufgebaut, ein Tank mit Lachgas zischt ununterbrochen.
In der Halle daneben blitzen Blechwände rot, grün oder blau auf, elektronische Musik pocht rhythmisch, der Raum ist voll. Einige Menschen schwitzen und springen euphorisch, andere taumeln komplett berauscht neben der Wand.
"Das ist das erste Mal seit dem Beginn des Lockdowns, dass ich tanzen gehe", ruft eine junge Frau in einer geblümten Hippiehose und schwarzer Weste. "Ich weiß, Corona", sie stockt. "Aber dieser Hedonismus überflutet mich". Im nächsten Moment teilt sie ihr Bier und den gelb gepunkteten Luftballon voll Lachgas mit wildfremden Menschen und umarmt sie. Ihr Gesicht leuchtet vor Glück. So sieht das Nachtleben in London im Corona-Sommer 2020 aus.
Party - regelmäßig mit Polizeieinsatz
Die Klubs in Großbritannien sind seit März zu. Alle Festivals - wie das legendäre Glastonbury - wurden in diesem Sommer abgesagt. Doch im Netz suchen zahlreiche junge Menschen nach illegalen Raves und Partys. Informationen werden in geschlossenen WhatsApp-Gruppen oder bei Snapchat geteilt. Jede Woche gibt es geheime Versammlungen auf Feldern, in Lagerhallen und Booten auf dem Kanal in London. Und es gibt spontane "block parties" in Parks und Gemeindezentren, die regelmäßig mit Polizeieinsatz aufgelöst werden. England, die Heimat der illegalen Raves, scheint gerade ein Comeback dieses Genres zu erleben.

Polizei löst einen illegalen Rave in Bath auf.
Foto: SWNS / SWNS/ action press"Wie sich die Geschichte wiederholt!", sagt Danny Rampling, einer der Gründerväter der britischen Rave-Szene. Im Sommer 1987 ging er mit drei Freunden nach Ibiza. Sie tanzten in einem Open-Air-Klub namens Amnesia zu House und Techno, gemischt mit Indie, Reggae, oder Funk. "Nicht viele Menschen waren da, aber es gab eine starke Einigkeit und Empathie zwischen uns, alle hatten sehr viel Spaß. Und diese Musik war so neu und frisch", erinnert sich Rampling.
Er war ein halbes Jahr davor bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen. Danach habe er sich wie neu geboren und spirituell erleuchtet gefühlt. Zurück in London gründete er den Club Shoom im Keller eines Fitnessstudios. Der gelbe Smiley an den Wänden wurde zum weltweiten Symbol für Raves, Acid House und Acid Techno.
Im Sommer 1988 hatte die elektronische Musik und die neue Droge Ecstasy, die dieses besondere Gefühl der Einigkeit auf der Tanzfläche erzeugte, die britischen Inseln erobert. Die konservative Regierung von Margaret Thatcher verordnete dem Land einen strikten Sparkurs.
Wenige Jahre davor hatten die Streiks der Bergleute aus Protest über die Schließung der Kohlegruben England erschüttert. Die politische Atmosphäre spiegelte sich in Raves wider - den Menschen ging es um Einigkeit, Protest, Ausbruch aus der stickigen Eintönigkeit der britischen Provinz, aber letztendlich vor allem um Spaß.
"Ich kam aus der Punk-Musik und wir waren gegen alles, sehr politisch, sehr anarchistisch", sagt Chris Knowles, der als DJ Chris Liberator bekannt ist. Bis heute spielt er nicht nur elektronische Musik - Acid Techno - sondern auch Punk mit seiner Band. Im May 1992 stand er hinter dem DJ-Pult auf dem berühmten Castlemorton Festival, einem illegalen Rave in den englischen Midlands, der eine ganze Woche lang dauerte. Tausende Großstadtraver tanzten auf einem Feld, rund um die Uhr.
"Es war verrückt, wir fühlten uns wie Könige der Welt", erinnert sich Knowles. Doch nach dem Festival wurden einige seiner Freunde verhaftet und angeklagt. Castlemorton löste eine heftige politische Diskussion über die Zulässigkeit illegaler Raves aus, die 1994 in ein restriktives Gesetz mündete, das der Polizei mehr Befugnisse bei der Auflösung dieser Veranstaltungen gab.
Knowles machte weiter und organisierte in London Partys in besetzten Häusern und Lagerhallen. Er sah zu, wie sich die zentralen Bezirke wie Shoreditch und Islington gentrifizierten und in den Lagerhallen, in denen er einst Musik spielte, Luxuswohnungen gebaut wurden. Die Stadt veränderte sich und wurde unerschwinglich teuer. Die illegalen Partys verschoben sich an den Stadtrand und die Wälder. In den letzten zehn Jahren sei es immer schwieriger geworden, einfach so leere Räume zu besetzen, um dort zu tanzen.

Polizisten schicken Besucher eines illegalen Raves nach Hause
Foto: SWNS / SWNS/ action pressDer Anti-Establishment-Geist der Raves aus den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren ist inzwischen fester Teil der britischen Popkulturgeschichte. Im vergangenen Jahr wurde die Ravekultur bei der Ausstellung "Sweet Harmony" ausgerechnet in der etablierten Saatchi Galerie gefeiert. Deren Gründer, der Werber Charles Saatchi, unterstützte zur Zeit des Rave-Booms eigentlich die konservative Regierung. "Die elektronische Musik und Undergroundkultur der Raves haben ein sicheres Zuhause für unterrepräsentierte Gruppen gegeben, für Schwule, für Transmenschen, für die schwarze Community", sagte Kobi Prempeh, Co-Kurator der Ausstellung.
Die illegalen Raves existierten in Großbritannien auch unmittelbar vor der Pandemie, wenn auch nicht so groß und sichtbar wie in den Neunzigerjahren. Die freien Partys auf Wiesen und in Lagerhallen, bei denen es keinen Eintrittspreis gab, zogen weiter Menschen aller Altersgruppen an. "Man trifft sich an einem geheimen Ort und niemand wird dafür schief angeschaut, wenn man verkleidet oder ganz einfach angezogen ist", beschreibt Prempeh die moderne Szene.
Während der Pandemie fanden auch diejenigen Gefallen am Tanzen auf geheimen Wiesen und Feldern, die davor mit der Szene wenig zu tun hatten - endlich eine Möglichkeit, die Corona-Einschränkungen zu überwinden. Plötzlich berichteten britische Medien jede Woche von illegalen Raves.
Mitte Juni kamen in der Nähe von Manchester rund 6000 Menschen zusammen, um auf zwei "Quarantäne-Raves" zu tanzen. Dabei starb ein junger Mann mutmaßlich an einer Drogenüberdosis, eine Frau wurde vergewaltigt und drei Menschen mit Messern verletzt.
Die Raver fürchten, dass die Ereignisse in Manchester die ganze Szene in Verruf bringen können. "Das sind Kriminelle, die mit der jetzigen Situation Geld verdienen wollen", schimpft ein junger DJ, der schon vor der Pandemie illegale Raves in Wäldern außerhalb von London organisierte. "Sie haben mit uns nichts zu tun, wir nehmen keinen Eintrittspreis, hinterlassen keine Spuren und machen am nächsten Tag die Wiese sauber, auf der wir getanzt haben". Er habe während der Pandemie nichts organisiert und denke erst jetzt über neue Tanzpartys nach.
Doch der Mainstream fragt bekanntlich nicht, welche Elemente der Szene-Kultur auf einmal populär werden. "Die Menschen wollen tanzen. Sie werden einfach weitermachen und womöglich wird daraus ihre neue Szene entstehen, genauso wie es mit uns in den Achtzigern passierte", sagt Danny Rampling.