Jarvis Cocker in Hamburg Sex mit der Kanzlerin
Die Bilanz ist ernüchternd: Ein Vierteljahrhundert steht Jarvis Cocker nun schon als Sänger auf der Bühne, schöner schneller Groupie-Sex ist ihm trotzdem eher selten zuteil geworden. Dabei hätte er, und daraus macht er heute keinen Hehl, gegen eine unverbindliche Nummer nie etwas einzuwenden gehabt. Er war bloß immer zu höflich gewesen, um zu fragen.
Jetzt hat Großbritanniens berühmtester Brillenträger seine Höflichkeit abgelegt und eine ganze Platte mit Songs aufgenommen, von denen man jeden einzelnen als rabiate Einladung zum Sex verstehen darf. Es geht um Erektionen im Museum, es geht um Triebabfuhrmaßnahmen auf der Autorückbank und vor allem geht es um erschwingliche Ersatzbefriedigungen aller Art.
Kritiker hassen diese Platte, und alte Fans vermissen die schönen zarten Melodien, die Jarvis Cocker früher immer mit seiner Band Pulp gespielt hat. Sagen wir mal so: Niemand hört gerne die Wahrheit, denn sie klingt meist nicht zart und schön.
Cocker aber, inzwischen 45 Jahre alt und frisch geschieden, will einfach nicht mehr lügen. So gesehen durfte man gespannt darauf sein, wie das Publikum beim vorerst einzigen Deutschlandkonzert am Dienstagabend in der Hamburger "Fabrik" auf seine Selbstoffenbarungsoffensive reagiert.
Um es vorwegzunehmen: Der Auftritt war ein Triumph. Der inzwischen vollbärtige ältere Herr walzte und wuselte gelenkig und lasziv über die Bühne, als gelte es, die aufgestaute Lust eines halben Menschenlebens rauszulassen. Derweil reckten sich ihm aus dem Auditorium die Hände seiner Fans entgegen, die offenbar wieder ganz mit ihm versöhnt waren.
Aber vielleicht wollten viele auch einfach nur die Gunst der Stunde nutzen, um den einst so distanzierten und nun so enthemmten Popstar mal zu berühren. Absperrgitter gab es natürlich nicht, das hätte ja auch irgendwie Cockers neuer Freude am kollektiven Lust-Erleben widersprochen.
Es ging ums Mitmachen
Überhaupt ging es ums Mitmachen. Gleich am Anfang öffnete der Künstler einen Glückskeks, den ihm jemand beim Tee vor dem Konzert zugesteckt hatte, und forderte das Publikum auf, die Worte vom Deutschen ins Englische zu übersetzen. Doch mit dem Motto "Lerne anderen zuzuhören, lerne dir selbst zuzuhören" konnte und wollte Cocker nichts anfangen. Also änderte er es ab in "Lerne, die anderen zu zwingen, dir zuzuhören". Über 40 Jahre, so fügte er hinzu, arbeite er jetzt schon an dieser Aufgabe: Geliebter Egomane!
Das ist es, was Cockers Kunst ausmacht: Er verwandelt beliebige Glückskekssprüche in verbindliche eigene Wahrheiten. Und dazu gehörte beim geradezu schmerzhaft schönen Konzert in Hamburg eben auch, noch mal mit den gängigsten Missverständnissen zur eigenen Person aufzuräumen.
Großartig, wie er den neuen Song "I Never Said I Was Deep" anstimmte, bei dem er sich voller verzweifelter Sehnsucht ins Auditorium streckte, um endlich das eigene Ich von der Leine zu lassen: Nein, er sei nicht tiefgründig. Nein, er sei nicht klug. Nein, er sei nicht selbstlos. Da hatte man das Gefühl, Cocker wolle sich endlich von allen Fremdzuschreibungen befreien. Frauenversteher, Samtpfote, Pop-Ironiker - das alles mag er nicht mehr sein.
Und das neue Solo-Album "Further Complications" ist eben auch ein Teil dieser Selbstbefreiungsinitiative: Statt edel arrangierter Pophymnen wie zu vergangenen Pulp-Zeiten hat Jarvis Cocker dafür in Amerika ein paar schmucklose Rock'n'Roll-Nummern runtergeschrubbt.
Ja, der olle britische Teebeutel hat den US-Rock und den darin innewohnenden Machismo entdeckt. Doch beim transatlantischen Austausch kam es auch zu interessanten Übersetzungsschwierigkeiten. Denn wo bei den Vorbildern das Testosteron regiert, da herrschen bei Jarvis weiterhin die alten Selbstzweifel. Wo es bei den Amis um den Vollzug des Sex geht, singt der Engländer von der Abwesenheit desselbigen - das allerdings so lustvoll, wie vor ihm kein anderer.
Allein, wie er am Abend seinen "Fuckingsong" präsentierte: Zu eruptiven Riffs im Red-Hot-Chili-Peppers-Stil sang er aufwühlend über das Songschreiben als sexuelles Kompensationsprogramm - das offensichtlich funktioniert. Schließlich schrie das Publikum begeistert, als der Sänger von der Bühne barmte: "Can I penetrate your consciousness?" Ja, penetrier' unser Bewusstsein! Cocker beschlugen vor Freude und Erregung die Brillengläser.
Schon zuvor hatte er das Bewusstsein der Konzertgänger penetrant auf die Probe gestellt, als er seine im erotisierenden Singsang vorgetragenen Kellnerinnenhymne "Angela" in einer Ansprache in gefährliche Nähe zur deutschen Regierungschefin rückte. Sex mit der Kanzlerin, mehr ist für Jarvis Cocker als libidinöse Erfüllung eben nicht drin.
Auf Pulp-Hits verzichtete er am Dienstag fast zur Gänze, dafür bewies er durch die konsequente Interpretation der neuen Songs, wie sich sexuelle Frustration in eine große raumgreifende Performance verwandeln lässt.
Der Höhepunkt wurde erreicht, als er zum Sprechgesang nach Lou-Reed-Art in "Leftlovers" gar Erbarmungswürdiges beschreibt. Das Szenario: Im paläontologischen Museum versucht der Ich-Erzähler gedanklich einer schönen jungen Frau seine Liebesdienste anzudienen. Wie verzweifelt sich Cocker da beim Vortrag auf der Bühne spreizte, wie tief er da in der virtuos auf zehn Minuten gezogenen Nummer mit dem Publikum ins ewig unerfüllte eigene Sehnen abtauchte... lächerlich? Anrührend!
Nein, Jarvis Cocker ist nach 25 Jahren Popstardasein keine tragische Figur. Er ist vielmehr der letzte Tragöde der britischen Popmusik.