
Jazzmetropole Berlin: Wechselspiel von Avantgarde und Tradition
Berliner Festival Völker der Welt, schaut auf diesen Jazz
Als Bert Noglik 2012 die Leitung des Berliner Jazzfestes übernahm, ließ er die Namen der amerikanischen Weltstars Wayne Shorter und Archie Shepp auf den Plakaten nicht größer drucken als die der deutschen Aufsteigerin Julia Hülsmann und ihres Kollegen Nils Wogram. Und im Programm für das in dieser Woche beginnende Festival wird die 28-jährige Schlagzeugerin Eva Klesse aus Nordrhein-Westfalen genauso herausgestellt wie der 86-jährige Saxofon-Veteran Benny Golson aus New York.
Diese Präsentation steht für die Sicht auf den Jazz, die der Festivalkurator Noglik hat: Ihn fasziniert das andauernde "Wechselspiel von Avantgarde und Tradition". Statt einer Parade großer Namen bevorzugt er "Projekte, in denen sich Geschichte und Politik im Medium des Jazz widerspiegeln".
Das diesjährige Berliner Jazzfest ist besonders geschichtsträchtig. Im Gründungsjahr 1964, vor genau 50 Jahren also, kam Martin Luther King in die ummauerte Stadt, die damals als Leuchtturm des Westens innerhalb der DDR subventioniert wurde. Der amerikanische Bürgerrechtler eröffnete die Berliner Festwochen und schrieb ein Grußwort für die in das Ereignis eingebetteten "Jazztage". Zu den berührenden Geschichten des Kalten Krieges gehört Luther Kings unangekündigter Abstecher nach Ost-Berlin.
Stoff für ein Auftragswerk: Der New Yorker Multi-Instrumentalist Elliot Sharp bringt im Eröffnungskonzert seinen "Tribute to MLK Berlin '64", eine Komposition mit Texten und Improvisationsteilen für Instrumentalisten. Bezüge zur Zeitgeschichte haben auch die "Freedom Songs", die der US-Sänger Kurt Elling mit der WDR Bigband für das Jazzfest vorbereitet hat, und der Beitrag "Die Engel" des Ost-Berliner Pianisten Ulrich Gumpert.
Gesellschaftlich relevante Projekte kann Festivalchef Noglik realisieren, weil er die Bundeszentrale für politische Bildung als Partner gewonnen hat. So unterstützte Noglik auch "Celebrating Eric Dolphy". Das ist ein Erinnerungswerk des Pianisten-Paares Alexander von Schlippenbach und Aki Takase an den 1964 mit 36 Jahren in Berlin verstorbenen afroamerikanischen Saxofonisten. Dolphy war damals der vielleicht vielversprechendste Musiker an der Schnittstelle von Tradition, Moderne und Avantgarde. Heute fühlt sich der New Yorker Pianist Jason Moran dem zeitgenössischen Jazz und gleichzeitig dem Erbe verpflichtet. In Berlin präsentiert der 39-Jährige seine Version von Stücken des Tastenvirtuosen und Entertainers Fats Waller aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren.
Ein Freejazzer schwärmt: "Zum Glück gibt es Berlin"
"Berlin befindet sich in gewisser Weise permanent im Zustand eines Jazzfestivals", sagt Jazzfest-Chef Noglik über die deutsche Hauptstadt, die neuerdings als eine der Jazzmetropolen der Welt gilt. Täglich treffen sich an etlichen Spielorten Musiker aller Stilrichtungen zu Sessions. Konzerte und kleinere Festival gibt es fast jeden Monat. Weil Wohn- und Proberäume an der Spree noch erschwinglich sind, ziehen Musikerinnen und Musiker von überall nach Berlin.
Jazzpopper Till Brönner, Mainstreamerin Olivia Trummer und Avantgardist Gebhard Ullmann sind Beispiele aus Deutschland. "Zum Glück gibt es eine Stadt wie Berlin, in der diese Kunstform mit einer unglaublich frischen deutsch-europäischen Eigenständigkeit ausgestattet wird", schreibt der aus Bayern zugezogene Free-Jazz-Posaunist Gerhard Gschlößl.
Aus dem Ausland nach Berlin kamen neben vielen anderen die amerikanische Sängerin Jocelyn B. Smith, ihr Trompete spielender Landsmann Paul Brody, der finnische Gitarrist Kalle Kalima und der russische Hornist Arkady Shilkloper; er hat gerade mit dem ukrainischen Pianisten Vadim Neselovskyi eine CD herausgebracht - friedliche Kooperation in kriegerischen Zeiten.
Dass Berlin schon zur Kaiserzeit "Vorboten des Jazz" wie Gospelsänger, Cakewalk-Tänzer und Ragtime-Bands anzog, ist dem im Frühjahr erschienenen 472-Seiten-Werk "Jazz in Berlin" nachzulesen. Über den Zustand des Jazz in beiden Teilen Berlins in den Mauerjahren 1961 bis 1989 informiert das gerade herausgekommene Buch "Berlin/Berlin - Kunststücke aus Ost und West". Von den später in Jazzfest umbenannten Jazztagen erhielt die Berliner Kulturszene wesentliche Impulse. Für den Erfolg der letzten Jahre steht der aus Leipzig kommende Festival-Chef Bert Noglik. "Die Zeit" beschreibt ihn treffend als "höflichen Mann, dem alles Laute, Auftrumpfende unangenehm zu sein scheint".
Nun hat die Leitung der Berliner Festspiele zehn Tage vor dem Beginn des 51. Festivals bekannt gegeben, dass Nogliks Drei-Jahres-Vertrag nicht verlängert wird und gleichzeitig den Namen seines Nachfolgers veröffentlicht: Richard Williams aus London. Insidern war bekannt, dass Noglik neue Projekte angehen wollte. Aber die Bekanntgabe seines Ausscheidens zu diesem Zeitpunkt wird in der Jazzszene als stillos angesehen. Statt über das Programm des Jazzfestes wird nun über Nogliks Abschied diskutiert - und über den angekündigten neuen Festival-Chef. "Auf den Oldie Bert Noglik, 66, folgt der Oldie Richard Williams, 67" schreibt der Kölner Journalist Michael Rüsenberg in seinem Blog jazzcity.de. unter der Überschrift "Too much Oldie Business". Immerhin, Rüsenberg gehört zu den ganz wenigen, die Williams kennen und lobt die Wahl des Engländers.
CD-Angaben:
Alexander von Schlippenbach / Aki Takase: So Long, Eric - Hommage to Eric Dolphy. Intakt Records; 9,99 Euro.
Jason Moran & Meshell Ndegeocello: All Rise: A Joyful Elegy of Fats Waller. Blue Note; 20,99 Euro.
Gebhard Ullmann, Gerhard Gschlößl u.a.: Gulf of Berlin. Jazzwerkstatt; 16,99 Euro.
Arkady Shilkloper / Vadim Neselovskyi: Kraikpau. Neuklang; 16,99 Euro.
Buchangaben:
Rainer Bratfisch: Jazz in Berlin., Nicolai Verlag, Berlin; 472 Seiten; 129 Euro.
Ulli Blobel / Ulrich Steinmetzger (Hg.): Berlin / Berlin - Kunststücke aus Ost und West. Jazzwerkstatt, Berlin; 212 Seiten; 24,90 Euro.
Jazzfest Berlin. 30.10.-2.11. Infos.