Jazz-Innovation Die Europäer kommen
Die Warnung kam kurz nach der Jahrtausendwende. Während die Amerikaner "europäischen Jazz mit dem gleichen mitleidigen Lächeln abtun wie japanischen Baseball", schrieb der britische Musikpublizist Stuart Nicholson 2001 in der "New York Times", braue sich in Europa etwas zusammen: Dort belebe eine Generation junger Musiker den Jazz, der in seinem Mutterland erstarrt sei.
Der Artikel löste Kritik aus, die in den USA zu wütendem Protest anschwoll, als Nicholson im vergangenen Jahr seine Beobachtung zuspitzte. "Is Jazz Dead? Or has it moved to a new Address?" fragte er in seinem gleichnamigen Buch. Die Antwort: Seit dem Tod von Miles Davis 1991 sei der Jazz in Amerika praktisch ausgestorben. Anderswo in der Welt dagegen erlebe er einen Auftrieb, weil Musiker elektronische Klänge und einheimische Folklore in ihre Stücke einbezögen. Die Vereinigten Staaten, so Nicholson, hätten die Globalisierung des Jazz verschlafen.
Zeit für Amerika, aufzuwachen. "Europe Invades!" titelte das führende Jazz-Magazin "Down Beat" (was in amerikanischen Ohren so alarmierend klingt wie "die Russen kommen"). In ihrer Mai-Ausgabe rückte die Zeitschrift zum ersten Mal in ihrer 72-jährigen Geschichte das Bild einer europäischen Jazz-Band auf die Cover-Seite: Sie stellte das Esbjörn Svensson Trio (E.S.T.) aus Schweden vor - als Vorreiter einer "verwegenen" Garde, die "den Durchbruch von der anderen Seite des großen Teichs anführt".
Der Angriff auf Amerika erfolgt mit konventionellen Instrumenten. Die drei Invasoren spielen in der seit Urzeiten existierenden Jazz-Standardbesetzung mit Klavier (Svensson), Bass (Dan Berglund) und Schlagzeug (Magnus Öström). Doch zusätzlich zu ihren akustischen Instrumenten nutzen sie auch Synthesizer, Wah-Wah-Pedale und Overdub-Grooves der Rock- und Popmusik. Romantische Improvisationen mischt das Trio mit elektronisch verzerrten Klangexplosionen. Der Rhythmus rockt, dann swingt er wieder mit marschierendem Bass und zischendem Ding-Ding-Da-Ding-Becken.
Swingen mit "Chill-out"-Faktor
"Wir lieben es, anders zu klingen", sagt Svensson, 42, der sich seinen wohlgeformten Charakterkopf modisch kahl rasiert und gerne schwarze Bodybuilder-T-Shirts trägt. Ihn freut das Lob aus Amerika, wo E.S.T. auf mehreren Tourneen durch Jazzklubs tingelte. Aber lebensnotwendig ist die US-Anerkennung nicht. In Europa füllt die Band Konzerthallen und Kirchen.
Denn Svenssons Trio fasziniert über die eher betagte Jazzgemeinde hinaus Jugendliche, die sich zur House-, Techno-, Drum nBass- und Jungle-Szene zählen. Während dieser Generation die Namen der amerikanischen Jazz-Stars nichts mehr bedeuten, kennt sie die Musik der Norweger Nils Petter Molvaer (Trompete) und Bugge Wesseltoft (Keyboards), des Franko-Schweizer Trompeters Eric Truffaz und seines deutschen Kollegen Till Brönner.
Die Musiker verbinden ihr technisches Können mit Computer-Einspielungen und produzieren Sounds, nach denen man auch Tanzen kann. Europas Jazznachwuchs, begeistert sich Nicholson, "erweckt damit die seit langem verlorene Verbindung des Jazz zur Populärkultur zu neuem Leben". Wie in der Swing-Epoche in den dreißiger und vierziger Jahren und zur Boogie-Woogie-Zeit in den Fünfzigern wird nach jazzigen Klängen getanzt. Dazu kommt heute noch der "Chill out"-Genuss: Schwermütige Trompetentöne über groovigem Bass und säuselndem Synthesizer.
Klanggulasch aus Europa?
Für die neuen Klänge haben Kritiker die Begriffe "Nordic Jazz" und "Euro Jazz" geprägt - nicht zuletzt weil die Musiker gerne Spielweisen von Lappländern und anderer europäischer Ethnien einbeziehen. In den Rhythmusgruppen trommeln zudem oft Afrikaner und Asiaten mit.
Aber ist das alles noch Jazz? Den Pianisten Michael Naura stören die "kunstgewerblichen Zutaten" bei vielen Jazzaufnahmen. So entstehe aus "Multikulti-Gepantsche" ein "Klanggulasch". Immerhin hat Naura als langjähriger NDR-Jazzchef und Mitgestalter des Jazzfestivals von Berlin auch europäische Musiker gefördert. US-Musiker, wie die Brüder Wynton und Branford Marsalis, dagegen lehnen die Idee vom Euro Jazz total ab; für sie ist Jazz schwarze Musik.
"Das bedeutet nicht, dass man schwarz sein muss, um Jazz zu spielen", sagt der Saxofonist Branford Marsalis und weist auf seinen langjährigen Pianisten Joey Calderazzo. Doch Jazzmusiker könne nur werden, wer die Kultur und Lebensweise der Afro-Amerikaner verinnerlicht habe. Voraussetzung dafür ist nach Marsalis Meinung, in Amerika zu leben. Jazz gehöre zu den USA wie Fußball zu Europa. Marsalis: "Ein Amerikaner wird nur dann ein ernst zu nehmender Fußballspieler, wenn er sich über Jahre in einer europäischen Profiliga behaupten konnte."
Wie sein Trompete spielender Bruder Wynton liebt Branford Marsalis Europas klassische Musik. "Wer sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzt und über hohes Können verfügt, kann Bach und Brahms spielen", erklärt er. "Aber wenn jemand aus Mississippi daherkommt, und sagt ,fuck Europe, ich bringe jetzt Beethoven auf meine Art, dann ist das respektlos; und herauskommen wird nur Stümperei."
Ohne große Namen aus Amerika geht nichts
Amerikas Jazzer bestreiten nicht, dass ihre Musik in Europa mehr respektiert wird als zu Hause. Während sie in den USA überwiegend in Clubs spielen müssen, in denen Kellner Steaks und Bier servieren, lauschen ihnen die Fans in der Alten Welt andächtig in Konzertsälen. Jazzveranstaltungen werden hier mit öffentlichen Mitteln gefördert. Deshalb ist Europa für die Branche ein unersetzlicher Wirtschaftsfaktor. "No Europe, no Jazz", sagte schon vor Jahrzehnten der New Yorker Impresario George Wein, der Tourneen und Festivals organisiert.
1992 berichtete das Fachblatt "Billboard", dass viele US-Musiker ohne Auftritte in der alten Welt nur halb so viel verdienen würden. 1998 machten laut "New York Times" amerikanische Jazz-Stars bis zu 80 Prozent ihrer Jahreseinkünfte auf Sommertourneen in Europa. "Europa hat besseren Wein, bessere Speisen, bessere Klaviere und das bessere Publikum", schwärmt die Pianistin und Bandleaderin Carla Bley.
Vor allem zahlt es die besseren Gagen. US-Musiker erhalten in der Regel unverhältnismäßig mehr Geld als ihre europäischen Kollegen. Das müsse so sein, erklärten Veranstalter von Konzerten und Festivals: Ohne große Namen aus Amerika ginge nichts. Genau da aber zeichnet sich eine Trendwende ab. Neuerdings kommen die Leute auch, wenn anstelle von Amerikanern Gruppen wie das Esbjörn Svensson Trio als Hauptattraktion auf den Plakaten stehen.