

Klar, Klavierspieler haben stets den Werdegang des Jazz beeinflusst. Da waren der Ragtimer Jelly Roll Morton und die Blues- und Boogie-Pianisten; Teddy Wilson stand für die Swing-Epoche; Bud Powell und Thelonius Monk feuerte die Be-Bopper an, und Lenny Tristano erscheint rückblickend wie ein Vorbote des Freejazz. Aber als stilbildende Persönlichkeiten gingen Bläser in die Jazz-Geschichte ein: Die Saxophonisten Charlie Parker und John Coltrane, die Trompeter Louis Armstrong und Miles Davis.
Könnte sich das ändern? Unter der Überschrift "Piano Power" wirft das Magazin "Down Beat" die Frage auf, ob Tastenvirtuosen die Bläser als führende Jazz-Instrumentalisten verdrängen. "2013 gibt es mehr Piano-Jazz-Talente als je zuvor in der Geschichte des Jazz", schreibt das US-Magazin und nennt unter anderen die Namen Keith Jarrett, Vijay Iyer, Brad Mehldau, Chick Corea, Herbie Hancock und Robert Glasper.
Typischerweise fehlen in der Aufzählung Europäer. Dabei beweist schon eine Tatsache die Wertschätzung der Pianisten auf diesem Kontinent: Die vielleicht wichtigsten unter den US-Größen - Keith Jarrett und Vijay Iyer - bringen ihre Alben nicht zu Hause heraus, sondern bei den Labels ECM beziehungsweise Act in München. Ist Deutschland ein Paradies für Jazz-Pianisten? Act war auch die Plattenfirma des vor fünf Jahren tödlich verunglückten schwedischen Pianisten Esbjörn Svensson. Dessen Trio e.s.t. nutzte neben den Standard-Instrumenten Klavier, Bass, Schlagzeug auch Synthesizer, Wah-Wah-Pedale und Overdub-Grooves und beeinflusste nachhaltig die Generation junger Jazz-Pianisten, die gerade in Europa Elemente aus der Klassik und der Folklore in ihre Musik einbringt.
"Das goldene Zeitalter des Pianos"
Das tun etliche Skandinavier, Polen und ein Schwarm aufstrebender deutscher Pianisten, aus dem Michael Wollny herausragt. Der 35-Jährige bewies am vergangenen Sonntag wieder einmal seine Vielseitigkeit. Beim Jazz-Baltica-Festival in Niendorf trat er zum ersten Mal mit dem norwegischen Saxophonisten Marius Neset auf und begeisterte mit seiner Duo-Darbietung das Publikum.
Neset wird auf Wollnys nächstem Album dabei sein - einer weiteren CD in einem Riesenangebot von Piano-Aufnahmen. Deutsche Labels bringen Monat für Monat so viele Neuerscheinungen heraus, dass die Fachpresse mit ihren Rezensionen kaum nachkommt. Hier sind drei Beispiele aus diesen Wochen - ein Trio-Format, eine Duo-CD und eine Solo-Einspielung:
Im Kölner Club "Loft" nahmen Thomas Rückert (Piano), Reza Askari (Bass) und Fabian Arends (Drums) "Meera" auf - eigene Kompositionen und einige Standards. Bei der von den "Down Beat"-Kritikern gerade wieder als "Label of the Year" gekürten Firma ECM erschien "Azure": Die Amerikanerin Marilyn Crispell musiziert mit dem Keith-Jarrett-Bassisten Gary Peacock. Und die Britin Julie Sassoon spielte in der "Neuen Synagoge" in Berlin ihr Album "Land of Shadows" ein. Für Sassoon war das ein emotionales Erlebnis. Denn die Pianistin hat jüdisch-deutsche Vorfahren, die 1939 nach England emigrieren mussten.
Die drei Alben bieten einen winzigen Einblick in die unzähligen Möglichkeiten, Jazz auf dem Klavier darzubieten. "Down Beat" behauptet: "Wir befinden uns in der Mitte eines goldenes Zeitalters des Pianos."
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Bläser oder Klavier, was ist stilbildender?: Das Klavierspiel von Keith Jarrett beeinflusst eine Generation von Pianisten.
Wie sein US-amerikanischer Landsmann Jarrett ist auch der Aufsteiger Vijay Iyer bei einem deutschen Label unter Vertrag.
Trios wie e.s.t. brachten wie viele Europäer Klassik- und Folklore-Elemente in ihr Spiel ein.
Unter einer Vielzahl von deutschen Pianisten ragt der 35-jährige Michael Wollny heraus.
Das Thomas Rückert Trio hat gerade ein Album mit eigenen Kompositionen und einigen Standards eingespielt.
Vom Trio zum Duo: Die Pianistin Marilyn Crispell und der Bassist Gary Peacock sind ein Beispiel für zahlreiche Duo-Produktionen.
Solokonzert in der neue Berliner Synagoge: Weil sie jüdisch-deutsche Vorfahren hat, war der Auftritt der Britin Julie Sassoon ein bewegendes Ereignis.
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