Rätsel Kanye West Wer Gott sein will

Eine neue Dokumentation zeigt die Karriereanfänge von Kanye West. Was sie nicht erklärt: Warum interessiert uns dieser Mann eigentlich?
Kanye West Ende Januar bei der Fashion Week in Paris: Ruhm mag die Religion unserer Zeit sein

Kanye West Ende Januar bei der Fashion Week in Paris: Ruhm mag die Religion unserer Zeit sein

Foto: Pascal Le Segretain / Getty Images

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Seit ein paar Tagen ist Frieden eingekehrt im Kopf des amerikanischen Rappers und Superstars Kanye West. Oder Ye, wie er sich seit einiger Zeit nennt. Tagelang haute er eine Nachricht nach der anderen auf seinen Social-Media-Accounts heraus, Anschuldigungen, Klagen, Verdächtigungen, immer in Großbuchstaben, maximale Lautstärke. Gegen seine Ex-Frau Kim Kardashian, gegen alte Freunde wie den Rapper Kid Cudi, gegen echte und imaginäre Gegner wie Billie Eilish. Über seinen Schmerz, die Familie verloren zu haben. Über die Sehnsucht nach seinen Kindern.

Ist das wirklich Frieden?

Nun sieht man auf seinem Instagram-Account  nur noch zwei Dinge: ein Bild von sich auf der Bühne, mit einer Entschuldigung für das erratische Verhalten der vergangenen Tage. Und einen kleinen Film, in dem der Rapper darüber sinniert, was eigentlich wirklichen Erfolg ausmacht. Autos? Geld? Schmuck? Oder ist es etwas anderes? Das Erreichen eher spiritueller Ziele?

Das Faszinierende an Kanye West ist, dass man nie weiß, woran man gerade ist. Am Sonntag saß er noch im Publikum des Super-Bowl-Finales, schaute seinen Kollegen Dr. Dre, Snoop Dogg und Eminem dabei zu, wie sie Hip-Hop als neue Mainstream-Kultur feierten, postete eine Statistik, dass #kanye besser trendet als #superbowl. Und ließ sich vom Publikum ausbuhen, als sein maskiertes Gesicht auf dem riesigen Stadionbildschirm erschien. Nun herrscht quasi meditative Stille.

Aber ist das wirklich Frieden? Oder nur die Ruhe im Auge des Sturms? Vor einigen Jahren machte er eine bipolare Störung öffentlich. Hat er gerade einen psychotischen Schub gehabt oder will er nur sein neues Album »Donda 2« promoten, das demnächst erscheinen soll? Kalkül oder Crazyness? Was ist los mit diesem Mann? Und: Warum interessiert er überhaupt? Die Musik, die er zuletzt veröffentlicht hat, war tatsächlich das am wenigsten aufregende an Ye.

Kanye kauft ein Pornoheft

So richtig hilft einem die neue Netflix -Dokumentation »Jeen-Yuhs« bei der Antwort auf diese Fragen auch nicht weiter, ein Dreiteiler, der die Anfänge der Karriere des Rappers zeigt, als er von Chicago nach New York zog, weil er mehr sein wollte als nur ein erfolgreicher Produzent, der Beats für andere Rapper macht. Der Comedian Coodie Simmons hat den Film gedreht, ein Bekannter von West aus Chicago, der spürt, dass dieser junge Mann irgendetwas will, das größer ist als das, was andere junge Männer wollen.

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So sieht man ihn, wie er die ersten Versionen der Songs seines epochalen ersten Albums aufnimmt. Wie er sich bei MTV-Leuten einschmeichelt, um einen Platz in einer Sendung zu bekommen. Wie er den Leuten bei seiner zukünftigen Plattenfirma auf die Nerven geht. Wie er ein Pornoheft kauft.

Und wie er zu Hause bei seiner Mutter Donda sitzt, die zu ihm sagt, dass er manchmal arrogant wirke. »Arrogant?«, fragt Kanye, als wäre ihm dieser Gedanke noch nie gekommen. Donda schaut ihn an, lächelt und antwortet: »Der Riese schaut in den Spiegel und sieht keinen Riesen.« Donda ist ein paar Jahre später an den Folgen einer Schönheitsoperation gestorben.

»Jeen-Yuhs« erzählt die klassische Geschichte der Anfänge eines Stars. Wie er sich gegen alle möglichen Widerstände durchsetzen muss. Ein Film darüber, wie der Star schon glauben muss, etwas Besonderes zu sein, als alle anderen noch die Wurst in ihm sehen, die sich wichtig macht. Es heißt, der Ruhm verderbe den Charakter, hat eine Klassenkameradin mal über Diana Ross gesagt – wo es doch in Wirklichkeit andersherum sei, Ross sei schon in der Schule unerträglich gewesen.

West im Jahr 2003: Eine bestimmte Form von schwarzer Mittelschichtssensibilität

West im Jahr 2003: Eine bestimmte Form von schwarzer Mittelschichtssensibilität

Foto: Mark Mainz / Getty Images

Aber erzählt das über den Kanye, den es heute gibt? Der, wenn er mit seiner neuen Freundin zu den Pariser Modeschauen einfliegt, für ein paar Stunden der meistfotografierte Mann Europas ist. Der ganz offensichtlich größere psychische Probleme hat, worüber aber niemand gern sprechen will, weil es so schwierig ist, dies zum Thema zu machen. Kanye hat sich längst vom Rapper in etwas anderes verwandelt, eine neue Art von Star, der größer und merkwürdiger ist als alles, was man sich Anfang der Nullerjahre vorstellen kann.

Anerkennung in Mailand

Das Interessante an »Jeen-Yuhs« ist, wie die Leute in den Jahren um 2003 herum aussehen. Jeder Rapper, der in diesem Film auftaucht, trägt ein Basketballtrikot. Jay-Z auf der Bühne, Scarface im Studio, auch Kanye. Es sind Aufnahmen aus einer untergegangenen Epoche. So laufen Rapper heute nicht mehr herum.

Und tatsächlich war es Kanye, der das geändert hat. Nicht nur dadurch, dass er eine bestimmte Form von schwarzer Mittelschichtsensibilität in den Hip-Hop eingebracht hat, das ganze Drama einer gescheiterten Schul- und College-Karriere, um das seine ersten Alben kreisen. Ein Thema, das es im Hip-Hop vorher nicht gab. Der Wille zur Kunst, der die darauffolgenden Alben prägt, der ebenfalls neu war. Eine Hinwendung zur alten Welt, der Wunsch, Anerkennung in Paris und Mailand zu finden.

West Anfang des Jahres mit Ex-Freundin Julia Fox: Aber ist das wirklich Frieden?

West Anfang des Jahres mit Ex-Freundin Julia Fox: Aber ist das wirklich Frieden?

Foto: Marc Piasecki / GC Images / Getty Images

Kanye West war es, der mit Virgil Abloh im Schlepptau 2009 nach Europa ging, um bei Fendi ein Praktikum zu machen. West war damals schon ein Superstar. Abloh wurde schließlich der kreative Leiter von Louis Vuitton, einer der einflussreichsten Jobs der Modeindustrie, bevor er im vergangenen Sommer starb.

Im vergangenen Dezember hieß es einmal kurz, Kanye sei für den Posten von Abloh im Gespräch. Hip-Hop und damit die Modelle von Männlichkeit im Pop sehen heute anders aus als damals. Bunter, vielfältiger. Das ist auch Kanyes Werk – der sein Geld nicht zuletzt mit einem Schuh verdient, dem Yeezy-Sneaker, den er für Nike entworfen hat.

Was interessiert also an diesem Mann? Dass er nicht nur größenwahnsinnig ist, sondern diesem Wahn auch Taten folgen lässt? Dass er sich nicht nur mit Jesus, Bill Gates und Picasso vergleicht, sondern irgendwie auch ein Genie ist?

Eine Aufmerksamkeitsikone

Wirklich enträtselt »Jeen-Yuhs« all diese Fragen auch nicht. Natürlich schaut man da einem Mann zu, der sich für Großes warmläuft. Aber dass diese irgendwie auch lächerliche Figur, die da die Zahnspange herausnehmen muss, um zu rappen, eines Tages mit Kim Kardashian verheiratet sein und das zeitweilig berühmteste Paar der Welt bilden könnte, das ist vollkommen unabsehbar. Auch nicht, dass Kanye West ein Superstarmodell entwerfen könnte, das nicht mehr davon handelt, etwas zu machen, Musik oder Mode, sondern nur noch zu sein. Eine Präsenz. Eine Aufmerksamkeitsikone.

Eines deutet sich in den Bildern dieses Films allerdings schon an, es tobt auch durch all diese wilden Rants, die Kanye nun wieder zurückgezogen hat und die aber unweigerlich im nächsten Schub ihre Fortsetzung finden werden: Wie allein man oben ist.

Ruhm mag die Religion unserer Zeit sein, mit eigenen Glaubenssätzen, Heiligen, Teufeln und Ikonen. Aber wer ein Gott sein will, muss bereit sein, sich in die Eiseskälte ewiger Einsamkeit zu begeben.

»Jeen-Yuhs«, bei Netflix. Insgesamt drei Teile, der erste Teil ist bereits zu sehen, die anderen beiden folgen Mittwoch kommender Woche und der Woche drauf.

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