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Kamasi Washington: Mit Jazz die Gesellschaft retten

Jazz-Prophet Kamasi Washington Hipster gegen den Hass

Er ist der Prophet einer neuen Jazz-Bewegung, die Amerika in einen politischen Groove versetzt: Der gefeierte Saxophonist Kamasi Washington veröffentlicht sein neues Album "Heaven & Earth". Eine epische Begegnung.

Bei Kamasi Washington sind sogar die Satzanfänge episch: "Manchmal, wenn du einen Berg hinauf steigst…", setzt er an. Und schon sieht man den 37-jährigen Saxofonisten in einer biblischen Szenerie vor sich: den Blick milde sinnierend in die Ferne gerichtet, steht er, seinen knorrigen Gehstab in der Hand, wie immer in ein traditionelles afrikanischen Daishiki-Gewand gekleidet, auf einem Felsplateau. Unter ihm eine graue Wolkendecke, über ihm der grenzenlose Sternenhimmel. Chöre heben an: Ah-HAAAA-haaaa, Ah-Haahaaa-HAAA-Haahaahaa.

Es ist das Hauptmotiv aus "Fists Of Fury", dem Eröffnungsstück aus Washingtons neuem Album - ein obskur-kitschiges Soundtrack-Fundstück aus einem Bruce-Lee-Film von 1972, das von Washington und seinem Orchester zu einer knapp zehnminütigen, karibisch groovenden Zustandsbeschreibung einer Welt in Rage und Unordnung aufgeblasen wurde. Die geballten Fäuste einer neuen, jungen Spiritual-Jazz-Bewegung, deren Prophet Kamasi heißt. Soeben ist sein neues, natürlich sehr episches neues Album "Heaven & Earth" erschienen.

Zwischen Himmel und Erde, dieses Bild wollte der Musiker aus Los Angeles eigentlich illustrieren: "Sometimes, when you climb a mountain…". Wenn du also auf diesen Berg steigst, erzählt er mit dieser sonoren Stimme eines weisen, alten asiatischen Kampfkunstlehrers, dann kommst du an genau diese Stelle über den Wolken. Dann lässt du den Blick schweifen, bekommst einen neuen Blick auf die Welt. "Und das ist so ungefähr das, was dieses Album ist: Eine Reflexion darüber, wo die Menschheit sich gerade befindet. Immer noch aus meiner ganz persönlichen Perspektive heraus. Aber die hat sich seit 'The Epic' geweitet."

50-Mann-Ensemble

Damit ist Washingtons wuchtiges Triple-Pack von Album gemeint, mit dem er sich vor drei Jahren einen Meilenstein in seinen Karriereweg rammte. Die in Ritualen und Altersrheuma erstarrte Jazzszene bebt noch heute von dieser Erschütterung des Genres. Mit The West Coast Get Down, einem furiosen Ensemble junger Musiker aus L.A., das inklusive Chor über 50 Mitglieder umfassen kann, darunter der Bassist Thundercat und der Keyboarder Brandon Coleman, hatte sich Washington 30 Tage lang in einem Studio in Silver Lake verbunkert, um Material für mehrere Alben aufzunehmen. "Ich habe Archive", lächelt Washington nur, wenn man ihn nach den Überresten aus dem Fundus fragt, aus dem "The Epic" entstand.

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Das aus Fusion-, Spiritual-, Modal-Jazz, P-Funk und dezenten Hip-Hop-Elementen gespeiste Großwerk bildete die Origin-Story eines neuen Jazz-Superhelden ab, der sich aus einfachen Verhältnissen in South Central L.A. zu einer Musikausbildung an der UCLA und dann zum gefragten Session- und Tourmusiker (unter anderen Herbie Hancock, Lauryn Hill, Nas) an der Schnittstelle zwischen Jazz und Pop emporgearbeitet hatte.

Als ihn der ebenfalls aus Los Angeles stammende Rapper Kendrick Lamar einlud, die Jazz-Arrangements für sein später bahnbrechendes Album "To Pimp A Butterfly" zu übernehmen, ahnte Washington, dass der Zeitgeist das Mainstream-Publikum reif für eine musikalische Bewusstseinserweiterung gemacht hatte. Ähnlich wie in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als Pop, Jazz und politisches Erwachen eine ähnliche Wechselwirkung eingingen wie jetzt. Mit revolutionärem Potenzial, das sich in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den 68er-Protesten entlud.

"Jazz voice of Black Lives Matter"

Zumindest sieht Washington die Welt, vor allem seine Heimat USA, erneut an einer solchen Weggabelung, "at the crossroads", wie er sagt, ein altes Blues-Motiv, dass er im Gespräch gleich mehrfach variiert. Wenn Kendrick Lamar der Luke Skywalker dieses neuen, afroamerikanischen Kulturerwachens ist, dann ist Washington, der Mann mit dem Moses-Stab, ihr Yoda. Mit seinem Saxofon und seiner beschwingten Transzendentalmusik, die er inzwischen vor Zehntausenden Pop-Fans beim Coachella-Festival darbietet, wurde er zur "Jazz voice of Black Lives Matter", wie es der US-Kritiker Greg Tate nannte. Die Veröffentlichung seiner EP "Harmony Of Difference" wurde von einer Installation im New Yorker Whitney Museum begleitet. Eine ganze Nation hat den Kamasi-Groove.

"Sicher", sagt Washington, "wir hatten Obama als Präsidenten, wir haben Kendrick, der sehr relevante Kunst und Musik macht, du hast viele Leute, die wirklich aufwachen: Da ist ein Ruck, eine Energie, eine Macht. Das gab es nach dem Bürgerkrieg ebenso wie in den Fünfzigern und Sechzigern. Und nun passiert es wieder."

Was er meint, sind nicht nur die Protestbewegungen der "Black Lives Matter"-Organisation gegen Polizeigewalt und Alltagsrassismus, sondern auch Ereignisse wie den Women's March oder die aktuellen Schülerdemonstrationen gegen die Waffenlobby. "Ja, Menschen gehen zu Tausenden auf die Straße für die Ideen von Liebe, Frieden und universeller Gleichheit, aber auf der anderen Seite hast du auch 60 Millionen Leute, die Donald Trump gewählt haben, dank einer Rhetorik, die nur auf Hass basiert".

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Kamasi Washington: Mit Jazz die Gesellschaft retten

Wofür sich die Gesellschaft an dieser Weggabelung entscheide, das werde man in den kommenden Jahren sehen, meint Washington, der sich nicht zwingend optimistisch gibt, auch wegen eigener Kindheitserfahrung im Getto von L.A.: "In den Sechzigern und Siebzigern gab es denselben Ruck Richtung Love und Peace, aber wir haben die Sache nicht zu Ende gebracht. In den Achtzigern wurden Waffen, Crack und Koks in die ärmeren, schwarzen Gemeinden gedrückt, da blieben keine Fragen offen, welchen Weg die Gesellschaft eingeschlagen hatte."

"Wie endlos unser Potenzial ist"

Und doch will Washington nun mit "Heaven & Earth", einem wiederum epischen, 16 Stücke umfassenden Doppelalbum, sein größer gewordenes Publikum mit einer positivistischen Philosophie infizieren. Nahezu alle Tracks habe er, trotz umfangreicher Musikvorräte, komplett neu komponiert, beseelt von einer Erkenntnis, die ihn ausgerechnet auf Tournee in der europäischen Provinz traf: "Wir machten Rast und der Nachthimmel war ganz klar. Du konntest alle Sterne sehen, anders als in L.A. die meiste Zeit. Und ich dachte: Wow, sieh dir dieses Universum an, wie endlos dieses Potenzial, unser Potenzial ist!"

Unter diesem Eindruck formte sich allmählich die Dichotomie seines neuen Werks: "Earth", das ist die Welt, wie er sie erlebt. "Heaven" ist das Ideal, die Welt, wie er sie sich als einen besseren, idealeren Ort imaginiert. Es ist eine zutiefst spirituelle "Journey" von den zornigen "Fists Of Fury" zu den raumgreifenden Klängen des "Space Travelers Lullaby" der zweiten Albumhälfte, bei denen man sofort die afrofuturistischen Bilder aus dem Kino-Erfolg "Black Panther" vor Augen hat.

Das ist das Tolle an Kamasi Washingtons Musik: Mit versierten Referenzen an Vorbilder wie Pharoah Sanders und John Coltrane begeistert sie Traditionalisten ebenso wie ein mit Hip-Hop-Kultur, "Pulp Fiction" und Comics sozialisiertes Publikum. Es lässt sich von den schwungvollen Melodien und satten Funk-Rhythmen mitreißen und tanzt ausgelassen in den hitzigen Konzerten der Kamasi-Posse. Zu Jazz.

Symbolfigur einer erstarkten Black Consciousness

Genre-Bezeichnungen mag Washington ohnehin nicht. Für ihn ist Musik schlicht Musik. Und auch wenn er sich seiner Rolle als Symbolfigur einer erstarkten Black Consciousness bewusst ist, will er seine Energie nicht auf ein afroamerikanisches Klientel beschränkt wissen. Der "Struggle", jener ewige Kampf gegen gesellschaftliche Widerstände, sei für alle real, egal ob schwarz oder weiß.

Denn dass ein Präsident wie Trump den weißen Teil der US-Bevölkerung repräsentiere, hält Washington für einen Trugschluss: "Trump repräsentiert die Bigotten, und die gibt es mit jeder Hautfarbe. Trump will nicht, dass es allen Menschen besser geht, er will, dass es einem kleinen, winzigen Teil der Bevölkerung gut geht, während die Masse sich abrackert und leidet."

Sein Album sei daher auch als - zutiefst friedvolle - Kampfansage gegen die Verhältnisse zu verstehen, als Aufforderung, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: "Es geht nicht um Schwarz gegen Weiß, es geht um die Mehrheit, die sich gegen eine Minderheit von Unterdrückern erheben muss. Viele, zu viele Menschen geben ihre Macht in die Hände anderer und erwarten, dass ihnen ihr Leben zubereitet wird. Das wird nicht passieren!"

Jeder müsse den alltäglichen Frust als das akzeptieren, was er ist: eine endlose Gelegenheit, Dinge zu verbessern, sagt Washington und muss lachen: "Nennen Sie mich ruhig naiv. Ich weiß, wie schlecht es gerade um die Welt bestellt ist und wie viel Leid es da draußen gibt. Aber trotzdem ist das Leben gut. Es ist ein Geschenk, keine lästige Pflicht."

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Man könnte diesem sanft murmelnden Jazz-Propheten noch stundenlang zuhören, aber das Interview ist vorbei, Kamasi Washington hätte jetzt gerne ein großes deutsches Schnitzel. Er stemmt seine schwere Gestalt aus dem Sofa, eine irdische Bürde, die sich erst auf der Bühne, im himmlischen Rausch der Töne, die er seinem Tenorsaxofon entlockt, zu lüften scheint.

Oder an der Spielekonsole. Denn trotz aller Gravitas ist Washington, das Kind aus South Central, auch ein Pop-Nerd geblieben: "Ich dachte früher mal, ich wäre der beste 'Street Fighter'-Spieler der Welt", erzählt er über sein jugendliches Faible für ein legendäres Martial-Arts-Game. "Also dachte ich, ich brauche einen Theme-Song, den sie spielen können, wenn ich die Arcade betrete." "Street Fighter Mas" heißt dieses nun vollbrachte Superhelden-Thema. Es ist eines der besten Stücke auf "Heaven & Earth".

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