
West in New York: Kanyes Krönungsmesse
Albumpräsentation von Kanye West Chaos als Kunst
Die Bühne ist bedeckt mit zwei riesigen Planen, als der Adel den Madison Square Garden betritt. Wie die Familie eines Königshauses auf dem Weg zum ritterlichen Lanzenstechen schwebt der Kardashian-Clan in weißer Pelzklamotte zu ihrer Sitzreihe.
Ein paar Reihen weiter unten hat Kanye West seinen Auftritt: Im roten Kapuzensweater schreitet er zum Soundpult. Dann tigert er für ein paar Minuten auf und ab, es scheint technische Probleme zu geben. Endlich klappt er seinen Laptop auf.
Nach dieser Eröffnungszeremonie werden auf der Bühne zwei Planen gelüftet und mehrere hundert Menschen in Kanye-Klamotte kommen zum Vorschein. Ein eindrucksvolles Tableau aus Menschen mit Hosen und Oberteilen in Erdtönen und zwei mit Zeltplanen bedeckten Quadern, die möglicherweise an Flüchtlingscamps erinnern sollen. Vanessa Beecroft heißt die italienische Performance-Künstlerin, die sich das ausgedacht hat. "Kein Lächeln, ernst gucken, ja, ihr dürft euch zwischendurch hinsetzen", so die kurz nach der Show ins Netz geleakten Anweisungen Beecrofts an die Models auf der Bühne. Die Kameras filmen bestürzte Gesichter im Nahaufnahme.
Geht es hier überhaupt noch um Musik? Über das neue Album von Kanye West wurde vorab sehr viel gesprochen und geschrieben. Seit Anfang 2015, als Kanye plötzlich mit Paul McCartney Musik machte und bei den Brit Awards mit einer eindrucksvollen Performance begeisterte, redete man über diese Platte. "So Help Me God" sollte sie eigentlich heißen. Jeden Monat rechnete man mit der Veröffentlichung, aber es kam nichts. Stattdessen konzentrierte man sich im Hause West auf die Mode.
Kanye hier, Kanye da
Umso überraschender kam am 8. Januar die Ankündigung von West, er würde sein neues Album am 11. Februar veröffentlichen. "Swish" würde es heißen, behauptete er auf Twitter. Die Wochen darauf boten reichlich Kanye-Entertainment: Eine Tracklist des angeblich "besten Albums aller Zeiten" kursierte im Netz und veränderte sich täglich durch per Hand geschriebene Notizen von Kanyes Gastmusikern. Aus "Swish" wurde "Waves". Zwischendrin stritt sich Kanye West auf Twitter medienwirksam mit dem Rapper Wiz Khalifa und seiner Ex-Freundin Amber Rose, entschuldigte sich wenig später, nur um vor ein paar Tagen ansatzlos auf Twitter zu behaupten, Bill Cosby, der mehr als 50 Frauen vergewaltigt haben soll, sei unschuldig. Vorgestern änderte Kanye West den Albumtitel dann zum dritten Mal: "The Life of Pablo" heißt das Werk nun.
Alles Teil einer perfekt durchgeplanten Promo-Kampagne?
Als "Wolves", der letzte Song auf der Tracklist von "The Life of Pablo" im Madison Square Garden ausläuft, lächelt Kanye West immer noch. Nein, er hat nicht das beste Album aller Zeiten aufgenommen, aber auf jeden Fall ein faszinierend verwirrendes Kunstwerk. Ein weiteres Gospel-Album, für das West seine Stimme erneut ausgiebig per Autotune manipuliert und in Cut-Up-Manier moderne Momente mit Oldschool-Dancehall-Riddims verschneidet.
"The Life of Pablo" ist ein Album von Kanye und über Kanye. Er rappt viel über seine öffentliche Wahrnehmung, über verlorene Freundschaften, erzählt hier und da misogynen Unsinn - und scheint sich zugleich seiner Unzugänglichkeiten bewusst zu sein. Diese Widersprüche sind es, die Kanye West von seinen Kolleginnen Rihanna und Beyonce trennt.
Während die beiden in den vergangenen Wochen perfekt durchchoreografierte Marketing-Kampagnen zur Aufführung brachten, regiert bei Kanye West das Chaos. So wird nach dem Ende des ersten Albumdurchlaufs aus der größenwahnsinnigen Veranstaltung im Madison Square Garden ein zerfransendes Irgendwas. Nun darf jeder mal ans Aux-Kabel: Erst die irrlichternde Rap-Gestalt Young Thug, darauf Kanye-Kumpel Vic Mensa. Im Anschluss zeigt Kanye einen Trailer für ein Videospiel zu Ehren seiner verstorbenen Mutter, in dem diese als Engel gen Himmel reist.
Zehn Stunden später ist weiter unklar, wann und wie "The Life of Pablo" regulär erscheinen wird, obwohl im Netz längst erste Rips der gesamten Show kursieren. Millionen Menschen kennen das Cover und die Tracklist, sie wissen das Frank Ocean die Schlussakkorde des Albums singt. Nur kaufen oder gar ganz regulär streamen kann man es noch nicht. Wann es so weit sein wird, weiß wahrscheinlich nur West.
Möglicherweise befindet er sich schon wieder im Studio, um letzte Details an seinem Album zu verbessern.