Klavierlegende Friedrich Gulda Im berauschenden Bach ertrinken

Lange bevor Glamour-Stars die Welt der Klassik eroberten, gab es auch mal richtige Genies - Friedrich Gulda zum Beispiel. Wiederentdeckte Aufnahmen zeigen den österreichischen Pianisten als Meister des Tasten-Barock, der sich vor allem bei Bach ganz und gar daheim fühlte.

Genies haben's schwer: Der Pianist Friedrich Gulda etwa war ein "früh Vollendeter" - und musste also schnell seine Grenzen sprengen. Kaum war er dem Wettbewerbsalter entwachsen, lagen dem 20-Jährigen die Klavierfans in New York zu Füßen, spielte er mit den berühmtesten Dirigenten und füllte locker die großen Konzerthallen.

Er schien alles zu können - und obendrein hatte er noch einen eigenen Ton.

Friedrich Gulda, 1930 in Wien geboren und im Jahr 2000 verstorben, entwickelte sich rasch zum schillernden Star – nur der kanadische Konkurrent und Zeitgenosse Glenn Gould strahlte mit noch mehr grellem Eigensinn am Virtuosenfirmament.

Viele Aufnahmen dokumentieren Friedrich Guldas speziellen Zugriff auf die Klassiker. Doch beinahe besser als sein gerühmtes Beethoven-Spiel besticht Guldas Umgang mit Bach, wie die jetzt erstmals veröffentlichten Aufnahmen "Gulda Plays Bach" (Deutsche Grammophon) aus den Jahren 1955 bis 1969 eindrucksvoll belegen.

Nicht, dass es irgendwelche Zweifel an Guldas stupender Interpretation des berühmten "Italienischen Konzerts" BWV 971 gegeben hätte. Doch wie technisch überragend und swingend zugleich Gulda hier den barocken Tasten-Ohrwurm durchfegt, das fängt jenen quirligen Geist ein, der seine Konzerte und sein Denken bis in die späten Jahre durchzog.

Gulda liebte neben der Klassik den Jazz heiß und innig, und hier kann man es deutlich hören. Oft "swingten" seine Bach-Interpretationen beinahe mehr als seine eher umstrittenen Jazz-Versuche. Größte Kontrolle und ein freies, entspanntes Feeling – das brachte in der strengen Barockform viel sprühendere Ergebnisse als bei Blues und Bop.

Auch die beiden "Englischen Suiten" Nr. 2 und Nr. 3 blühen unter Guldas Fingern zu farbenprächtigen Gewächsen auf, jedes Detail, jede Idee glänzt makellos. Tempo und Aufbau gelingen ihm ebenso lebendig wie logisch. Guldas Bach atmet. Als Gulda 1968, also zu Zeiten dieser Aufnahmen, die 32 Klaviersonaten von Beethoven in einer epochalen Gesamteinspielung vorlegte, war er mit 38 Jahren auf der Höhe seines Ruhmes.

Fünf Jahre zuvor hatte ein anderer Großer des europäischen Klavierspiels ein Konzert in Potsdam gegeben, das ursprünglich vom DDR-Rundfunk mitgeschnitten und jetzt fast zeitgleich mit Guldas Fundstücken veröffentlicht (Deutsches Rundfunkarchiv/DRA) wurde: Wilhelm Kempff, damals immerhin schon 68 Jahre alt, spielte unter anderem die "Französische Suite" Nr. 5 von Johann Sebastian Bach.

Wer diese kristallklare Interpretation hört, staunt, wie nahe sich ein noch junger Wilder wie Gulda und ein großer Alter des Pianos kommen können, wenn es um Bach geht. Kempff, dessen Kunst bei Beethoven, Schumann, Schubert und Brahms Momente höchster Vollendung bescherte, scheint hier mit beinahe heiterer Akribie den eine Generation jüngeren Meistern zeigen zu wollen, dass er schon immer wusste, wo bei Bach der Hammer hängt.

Klassisch durchdacht und metallisch fest, biegsam und elegant federt sich Kempff durch die Suite, man spürt die gespannte Live-Atmosphäre, aber auch die Erfahrung und souveräne Finesse. Eine wunderbare Veröffentlichung, die noch einmal den Scheinwerfer auf Wilhelm Kempff richtet, der zu den exzellentesten und vielseitigsten Musikerpersönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts gehört.

Wie sehr der sonst abenteuerlustige Friedrich Gulda sich bei Bach zu Hause fühlte, zeigen auch "kleine" Stücke wie das hier vertretene Capriccio B-Dur BWV 992, das zwischen verhangen intimen und übermütig tänzerischen Tönen die spielerische, liedhafte Seite des Thomaskantors zeigt. Guldas Können vereint diese verschiedenen Ebenen Bachs mit leichter Hand.

Auch Gulda ist hier live zu hören, doch ihn berührt das Konzertereignis spürbar weniger, er spielt halt immer mit der ihm eigenen Lässigkeit. Auf dem Klassik-Terrain wusste Gulda stets, was er konnte und was er nicht konnte – Liszt zum Beispiel. Die Interview-Sequenzen auf der im vergangenen Jahr erschienenen DVD "So What" illustrieren dies höchst unterhaltsam.

Doch beim Jazz ließ er sich gehen: Da war Gulda nur Mittelmaß. Auch seine eigene Beigabe zu dieser CD, ein Präludium mit Fuge, brilliert mit grandioser Technik, doch es ist nicht mehr als hoch gediegenes Imitat. Wer unbedingt mal den Jazz-Gulda haben möchte, sollte zum feinen Album "As You Like It" auf dem verdienstvollen MPS-Label greifen.


CD "Gulda plays Bach" (Deutsche Grammophon)

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