Klavierlegende Virtuoses Understatement

Maurizio Pollini gehört zu den Granden des Klavierspiels. Doch er vertraut der eigenen Legende keineswegs: Mit seinen jüngsten Einspielungen meißelt er unermüdlich an den letzten Dingen. Selbst seinem Hausgott Chopin verpasst er so ein ganz neues Erscheinungsbild.

Achtung, Spätwerk! So möchte man fast vor Maurizio Pollinis aktuellen CDs warnen, denn der Ausnahmepianist nimmt bei den Klassikern noch mal ganz neu Maß. War schon sein aktueller Beethoven, die Sonaten ob 2, so abgeklärt wie nie zuvor, so verwundert Pollinis neue Chopin-Einspielung umso mehr. Ganz minimalistisch streng "Chopin opp. 33-36, 38" betitelt, beinhaltet sie Mazurken, Walzer, die Ballade Nr. 2 sowie die Sonate Nr. 2 - ein scheinbar harmloses Potpourri wohlbekannter Stücke, von bewährter Hand zu Gehör gebracht. Pollini und Chopin: eine wunderbare Freundschaft von Karrierebeginn an.

Doch der arrivierte und hoch angesehene Großmeister der vollgültigen Interpretation will diesmal mehr. Und zwar nicht "nur" Chopins Virtuosenstücke wie die zweite Sonate mit dem berühmten Trauermarsch beeindruckend zelebrieren, die emotionalen Ausbrüche und aberwitzigen technischen Hürden jubilierend meistern, das alles ist bei Pollini sowieso Standard. Er will hinter die Fassade der Kompositionen blicken, die das Schillernde zu purem Understatement gerinnen lässt, den glatten Glanz fast komplett ausblenden. Das verblüfft in seiner Konsequenz beim ersten Hören dann doch.

Man spürt es, hier ringt ein ganz Großer um seinen eigenen Spätstil, indem er bei vermeintlich ausinterpretierten Werken ins letzte Detail geht, um zu einer neuen, distanzierten Sichtweise zu gelangen. Wie sehr das einem Komponisten wie Chopin gerecht wird, der ja gerade die Emotion, das Sentiment in der virtuosen Umsetzung zum Prinzip seines Werkes erhoben hat, ist die Frage. Pollini jedenfalls beantwortet sie für sich mit einer außerordentlichen Disziplin, wirbelt streng durch die Harmonien und sucht stets nach der Essenz des Stückes: Bloß nicht von der Spiellaune und der sinnlichen Donnerfreude betören lassen! Dass er dabei nicht in trockene Askese (wie etwa der kaum weniger virtuose Krystian Zimermann) versinkt, verdankt er seiner intellektuellen Schärfe und dem erfahrenen Blick des langgedienten Musikers.

Sein Problem, wenn man es überhaupt so nennen will, war seine frühe Vollendung. Wer wie er die aberwitzig schweren Etüden op. 10 und 25 von Chopin mit so rasender, überwältigender Perfektion und zupackender Lust an der Brillanz einspielte, wie Pollini es zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bereits staunenswert tat, der muss nichts mehr beweisen. Zumal ihm gleichzeitig die Préludes und Polonaisen Chopins in gleicher Klasse gelangen, allesamt auf wunderbaren CD-Einspielungen dokumentiert.

Schon zehn Jahre zuvor hatte der 1942 in Mailand geborene Pianist Wettbewerbe gewonnen und umjubelte Konzerte gegeben. Er schien alles zu können, und alles schien ihm zu gelingen. Aber wenn man gar nichts falsch macht, kann es auch nicht richtig sein: Der intelligente und sensible Pollini machte sich nach seinen Jugenderfolgen erst mal rar und wollte lernen. Wie gut ihm das tat, bewiesen seine Mustereinspielungen in den Siebzigern. Pollini war nicht nur Garant für Virtuosität, er war zu einem Siegel für allgemeingültige Interpretationen von Klavierstandards geworden. Was kann so einer im Alter noch bewegen?

Zumindest rückt Pollini grundsätzlich ein paar Dinge zurecht: Man muss die Mazurken Chopins nicht so namenlos todtraurig und abgründig spielen, wie es Arturo Benedetti Michelangeli in seiner epochalen DG-Aufnahme getan hat. Pollini seziert die Melancholie und traurige Romantik der Stücke, als wollte er zeigen, wie solche Musik funktioniert: Hört her, so bringt man das zum Klingen! Nicht analytisch, aber durchdringend und fein gezeichnet, während er den Charakter der Stücke stets respektiert. Bei den Walzern, die eh harmloser tönen, greift dieses Prinzip noch besser. Natürlich lässt er der Ballade op. 38 ihren Schmerz und ihre überbordende Emotionalität - jedoch mit einer Spur Distanz, die den Interpreten und seine formende Kraft sichtbar macht, und dadurch - so paradox es klingt - dem Werk optimal gerecht wird.

Man möchte Pollini beglückwünschen: Zwar ist sein Spätstil kein Schweben in noch virtuosere Höhen, doch dem reinen Musizieren ohne Eitelkeiten ist er so nahe wie nie zuvor.


CD " Maurizio Pollini spielt Frederic Chopin op.33-36, 38" (Deutsche Grammophon).

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