Album der Woche mit Little Simz Ihre schöne, dunkle, gar nicht perverse Fantasie

Warum britischer Hip-Hop zurzeit interessanter ist als Kanye und Drake, zeigt die Londoner Rapperin Little Simz mit Soul-Power und Lady Di auf »Sometimes I Might Be Introvert« – unser Album der Woche.
Rapperin Little Simz

Rapperin Little Simz

Foto: Nwaka Okparaeke
Little Simz - »Sometimes I Might Be Introvert«

In welchem Zustand sich der üblicherweise tonangebende US-Hip-Hop zurzeit befindet, wurde in den letzten zwei Wochen eindrucksvoll deutlich, weil gleich zwei Superstars des Genres sich bequemten, neue Alben zu veröffentlichen: Kanye West und Drake. Der eine von Jesus (und sich selbst) besoffen, der andere nur von sich selbst. Alles sehr, sehr langweilig.

Bis zur sehnlichst erwarteten Rückkehr von Kendrick Lamar (und Frank Ocean) kann man sich also von diesen Dudes getrost abwenden – und den Blick nach Großbritannien richten, wo ohnehin schon seit einiger Zeit der vielleicht interessantere, weil dringlichere Hip-Hop, Soul und R&B produziert wird. Unter anderem von der inzwischen 27 Jahre alten Rapperin Little Simz aus London, die mit ihrem vierten Album nun so etwas wie das feminine Pendant zu Kanyes Opus Magnum »Beautiful Dark Twisted Fantasy« veröffentlicht hat – nur, dass ihre Vision nicht twisted, also pervers oder verkorkst ist, sondern geradlinig und klar. »Sometimes I Might Be Introvert«, mit orchestralem Schwung, Streicher, Spoken-Word-Interludien und James-Bond-Dramatik ausgestattet, wirkt wie ein edles HBO- oder Netflix-Drama über Women’s Liberation. Es ist das lyrisch in sich gekehrte, musikalisch abenteuerlustige Manifest einer Pop-Künstlerin, die mehr und mehr zu sich selbst gefunden hat – und nun die Grenzen ihres bisher monochromen Kreativkosmos konsequent erweitert und ausmalt.

Forschend, mal mutig, mal schüchtern, immer getrieben von sozialem Frust, privatem Schmerz und einer erschütternden, gewaltvollen und vaterlosen Biografie im Norden von London, tritt sie einen eleganten Ermächtigungsfeldzug an, der ihr in naher Zukunft Krone, Zepter und Thron ihres Genres bescheren könnte. Ihr populärer, ebenfalls aus der Grime-Szene stammender Kollege Stormzy ahnte das bereits in seinem Track »Superheroes«, nachdem er Simz auf der Bühne gesehen hatte, eine zornige, wie auf Speed rappende Urgewalt: »See her on stage, I know that women can be kings«, rappte er vor zwei Jaren ehrfürchtig.

Bisher diente der Rapperin, die eigentlich Simbiatu »Simbi« Abisola Abiola Ajikawo heißt und nigerianische Wurzeln hat, ihre Musik vorrangig als Wutabfuhr, zuletzt auf ihrem nervösen Album »Grey Area«, in dessen Tracks sie mit Korruption, der Klassengesellschaft, kapitalistischen Härten, Rassismus und dem toxischen Patriarchat abrechnete: hart groovend, unerbittlich giftig reimend.

Umso überraschender, dass sie jetzt ihren Schutzpanzer ablegt und ihre verletzliche Seite offenbart, ihren Struggle, zu innerer Stärke zu gelangen. Die sehnsuchtsvoll luxuriöse Soulmusik dazu produzierte erneut ihr Langzeit-Partner Inflo, der in jüngster Zeit mit der anonymen britischen Band Sault Aufsehen erregte. »Sometimes I Might Be Introvert« tritt in denselben Resonanzraum aus Marvin Gaye, Billie Holiday, »Black Lives Matter« und gegenwärtiger, britischer Wokeness-Prosa.

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Doch die Battle-Tracks sind rarer diesmal, eigentlich gibt es mit »Speed« nur einen einzigen, der mit gummiartigen Beats und Kampf-Ansagen gegen Rap-Machos begeistert. Zwei Tracks gegen Ende des Albums würdigen Ajikawos afrikanische Herkunft mit Afro-Beats und Chants analog zu ihrer Kleidung und Haartracht auf dem Cover. »Woman« animiert Frauen wie sie, die aus Nigeria, Tansania oder Äthiopien auf die Straßen von London geworfen werden, sich auf ihren »Glow« zu besinnen, »pressure makes diamonds, don’t fold«, heißt es an einer Stelle in der Interlude »Gems« – jede Frau ein Rohdiamant; der stete Druck der Männerwelt, der Verhältnisse, macht sie nur stärker, erhabener und schöner… wenn sie sich denn behaupten können. Ihnen legt Simz diesen Soundtrack an die Seele. Im Videoclip haben sie bereits ein Herrenhaus besetzt und die Insignien des Adels erobert.

Interessanterweise ist es nicht Simz selbst, die diese wiederkehrenden Achtsamkeitsworte mit bedächtiger, fast therapeutischer Stimme spricht, sondern die weiße Schauspielerin Emma Corrin, die zuletzt in der Serie »The Crown« Prinzessin Diana spielte, noch so eine introvertierte Frau, die lernen musste, sich in einer starren Welt voller royaler Regeln durchzusetzen. Wie ein zu Selbstliebe mahnender Geist der unterdrückten Depressionen des poshen Englands und seiner komplexen Traditionen taucht Corrin mehrmals auf, einmal empfängt sie die stolze Rap-Prinzessin aus dem Prekariat sogar zum Tee im Salon (»The Rapper That Came To Tea«).

Es geht also auch um Frauen-Solidarität über Musikgenres, Klassen und Ethnien hinweg in diesem Aufruf zur Einheit, den Simz zu Fanfaren, Hollywood-Chören, und aufwühlenden Marschier-Beats in »Introvert« formuliert: »As long as we’re unified we’ve already won«. Die Palastmauern beben schon. (9.0)

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Kurz abgehört:

Low – »Hey What«

Weiße Pferde stehen ja symbolisch, immer wieder auch im Pop, für den Triumph des Guten über das Böse, die Aufklärung und Erleuchtung. Insofern ist es erst mal eine Erleichterung in dunkler Zeit, dass Alan Sparhawk und Mimi Parker ihre ewig beruhigenden Stimmen im ersten Track dieses verzerrten und verrauschten 13. Low-Albums in ein melodisches Mantra gießen: »Still, white horses take us home«. Der Rest ist, wie schon auf »Double Negative«, tröstlich-trauriger Folk-Gesang, eingebettet in den elektrostatischen, schroffen Noise der Gegenwart. Kathartisch, auch ohne Gitarren. (8.5)

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Tommy Genesis – »Goldilocks X«

Vor diesem Goldlöckchen sollten sich alle Bären tunlichst in Acht nehmen: »I can bleach my hair but can't escape my roots« postuliert Tommy Genesis gleich zu Beginn ihres sehr unterhaltsamen zweiten Albums im saftigen »Peppermint«. Genesis (die wirklich so heißt) bleibt Kanadas talentierteste, furchtloseste und vielseitigste Fetisch-Rapperin. Gegen ihre selbstbewusst sexpositiven Verse über »juicy pussys« klingen die US-Kolleginnen mit ihrem »WAP«-Schocker ziemlich keusch – und mit »Fuck men« im grandiosen Track »Men« meint sie nicht den körperlichen Akt. Musikalisch legt sie gelegentlich House-Rhythmen und Pop-Hooks und Indie-Rock aufs klapprige Beats-Skelett. Warum ist sie eigentlich immer noch ein Untergrund-Star? (8.0)

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Kacey Musgraves – »Star-Crossed«

Traditionell entstehen große Pop-Alben oft im Trennungsschmerz, bei Kacey Musgraves, der gefeierten Country-Innovatorin aus Texas, scheint es umgekehrt zu sein: Ihr triumphaler Grammy-Gewinner »Golden Hour« entstand in einer Phase des größten Glücks, »Star-Crossed« nun nach einer viel zu schnell erfolgten Scheidung. Vielleicht alles ein bisschen viel: Der Pop-Ruhm, die private Krise, der Anspruch, eine Shakespeare-Tragödie im »Jolene«-Modus zu schaffen, die nicht nach Nashville-Mief, sondern nach L.A. und Charts-Moderne klingt. Zu abgeklärt, zu lieblich und aufgeräumt, um einem das Herz zu brechen. (7.0)

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Spencer. – »Are U Down?«

Wenn man Miles Davis im Namen trägt, wie Spencer Miles Abraham Allen, ein 22-jähriger Musiker aus Brooklyns Hipster-Hood Bed-Stuy, dürfte der Erfolgsdruck immens sein. Erstaunlicherweise könnte Spencer. auf seinem sommerlich-traumwandlerischen Debüt aber gar nicht entspannter wirken: Sein urbanes Gebräu aus Soul, R&B, Jazz und Indie-Pop ist so hinreißend elastisch, als wäre es von der New Yorker City-Hitze zu süßem Sirup geformt worden, der genüsslich und ziellos in alle Richtungen blubbern will. Unmöglich, schnell und hektisch durch die Straßen zu hetzen, wenn man diesen hypermodernen Retro-Sound im Walkman hat. Die neueste Rebirth of Cool. (7.8)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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