Igor Levits Corona-Livestream-Konzert Geschafft!

Igor Levits Aufführung von "Vexations" im Livestream: Ein Meer von Notenblättern
Foto: DER SPIEGELAls es - endlich - vorbei war, schrieb Igor Levit auf Twitter, er sei "Fertig. Erledigt. Glücklich. Dankbar. Und sowas von high." 15 Stunden und 29 Minuten lang hatte der brillante Pianist immer wieder dasselbe Stück gespielt, die "Vexations" - zu deutsch "Quälerei" - von Eric Satie. Das live übers Internet gestreamte Konzert begann er am frühen Samstagnachmittag, der Schlussakkord erklang am frühen Sonntagmorgen.
Insgesamt 840 Wiederholungen der "Vexations" spielte Levit in dieser Zeit. So hatte es Satie vorgesehen, als er das Stück 1893 komponierte. "Um dieses Motiv 840 Mal hintereinander zu spielen, wäre es ratsam, sich vorher in tiefster Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit vorzubereiten", schrieb der Komponist an den Anfang seiner Partitur, die auf eine Seite passt.
Levits Vorankommen bei seinem Klavier-Marathon war dementsprechend an einem Papierstapel ablesbar, der anfangs sauber auf seinem Konzertflügel aufgetürmt war, für jede der 840 Wiederholungen ein Blatt. Nach jedem Durchgang zog er eines davon zur Seite und ließ es zu Boden fallen, der am Ende von einem Meer aus Notenblättern bedeckt war.
Mit der Aktion wolle er auf das Leid der Musiker hinweisen, die in der Coronakrise keine Auftrittsmöglichkeiten haben, erklärte Levit zuvor. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagte der Künstler, in der Krise sei ihm dieses Werk wieder in den Sinn gekommen, "das in seiner Monotonie und Unnachgiebigkeit und beinahe Inhaltsleere so meinem Innengefühl entspricht."
Bis heute ist umstritten, ob Satie seine Komposition ernst gemeint hat oder damit nur einen Scherz machen wollte. Experten bezeichnen die Abfolge von 17 Akkorden als geprägt von Langeweile. Das kurze Stück hat keinen Spannungsbogen, keine Gegenstimme, nur jene 17 Akkorde, die Satie "sehr langsam" gespielt hören wollte. Für Igor Levit hatte die Komposition aber auch einen praktischen Vorteil: In weiten Teilen lässt sie sich einhändig, nur mit den Fingern der linken Hand, spielen. So hatte er die rechte frei, beispielsweise um Notenblätter abzulegen.
In seinem vollen Umfang, also mit den ganzen 840 von Satie vermerkten Wiederholungen, war das Stück erst 1963 erstmals aufgeführt worden. Der Komponist John Cage hatte die Aufführung damals in New York organisiert. Er ließ das Stück allerdings von einem Team aus zehn, sich abwechselnden Pianisten spielen. Die Aufführungsdauer lag damals bei mehr als 18 Stunden. 1967 wurde das Stück erstmals komplett von einem einzigen Künstler, Richard Toop, in voller Länge gespielt.
In der Aufzeichnung von Levits Aufführung, die bei YouTube abrufbar ist , kann man deutlich erkennen, wie ihm die Erschöpfung im Laufe der fünfzehneinhalb Stunden zu schaffen macht. Auf einem Tisch neben dem Klavier sind Bananen, Datteln und Tomaten zu sehen, die er aber kaum anzurühren scheint. Ab und zu bringt ihm jemand einen Espresso. Mehrmals wurde die Liveübertragung kurz unterbrochen, damit Levit etwas essen oder zur Toilette gehen konnte.
So erschöpft er am Ende war, so zufrieden dürfte Levit gewesen sein, auch wenn er im Sinne des Komponisten wohl ein wenig gehetzt durch die Komposition gegangen ist. In manchen Veröffentlichungen ist zu lesen, dass Satie mit seiner Anweisung, das Stück "sehr langsam" zu spielen, meinte, dass es am Ende satte 28 Stunden dauern solle. Aber das sind Spekulationen, denn von Satie selbst gibt es offenbar keine derart konkreten Hinweise auf die Spieldauer.
Der in Russland geborene Igor Levit gilt als einer der bedeutendsten Pianisten seiner Generation. Mit sechs Jahren hat er sein erstes Klavierkonzert gegeben. Schlagzeilen machte er, als er den ihm 2014 verliehenen Echo Klassik aus Protest gegen die Auszeichnung der Rapper Kollegah und Farid Bang zurückgab (Lesen Sie hier ein Porträt über den Künstler).