Abgehört - neue Musik Romantik für den kühlen Katermorgen

Verliebt in Bryan Ferry und Nick Cave: Der Sänger von Sizarr begeistert als Jungstötter mit seinem Solodebüt. Außerdem: Stilles Leid mit Josin, Qual-Ekstase mit Culk und Pop-Pointen von Arbeitsgruppe Zukunft.
Von Andreas Borcholte, Lenne Kaffka und Ariana Zustra

Jungstötter: Love Is
(Pias/Rough Trade, ab 1. Februar)

Nach Berlin zu ziehen, da spricht der Rezensent aus eigener Erfahrung, kann kathartische Wirkung haben. Die oft hässliche, aber auch schrullig-schöne Hauptstadt kann aus Elend und Einsamkeit neue Energien und künstlerische Epiphanien formen, Beispiele hat vor allem die Popmusik genug, von Bowie bis Isolation Berlin. Auch Fabian Altstötter zog es nach Landau, Mannheim und Leipzig an die Spree, wo er, live in den Kreuzberger Red-Bull-Studios, sein Solo-Debüt "Love Is" aufnahm. Widerborstig wie die Stadt, in der er jetzt lebt, ist auch sein neuer Kunstname: Jungstötter, das klingt nach Sturm und Drang, aber führt den tödlichen Dolchstoß ins Herz der Jugend gleich mit. Romantik!

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Altstötter war bisher Frontmann bei der Popband Sizarr, deren auffälligstes Merkmal tatsächlich der Gesang war. Seine vollumfängliche Kraft entfaltet diese Stimme aber erst jetzt, befreit von Schnickschnack und Generika, begleitet oft nur vom selbstgespielten Klavier oder sparsam gesetzter, aufreizend träge bespielter Instrumentierung. "Silence" gurrt und heult er im ersten Song eine Sehnsucht aus seiner Seele hervor, die zugleich auch eine Angst ist: Die Furcht vor dem Stumpfen in dir selbst, wenn um dich herum alles rauscht, flasht und fließt: "There's a silence in this room/ It's making everyone uncomfortable".

Der nominell rejuvenierte Sänger, auf dem Cover in brütender Ian-Curtis-Anmutung, klingt dabei vor seiner Zeit gealtert und lebensbefahren. im Samt-Sakko erbebend wie Bryan Ferry schwelgt er in der Tragik seiner hochschwellenden Töne. Ein bisschen Thom Yorke ist auch dabei, ab und zu auch das lakonische Goth-Narrativ Nick Caves ("In Too Deep").

Das sind ambitionierte Vergleiche für einen deutschen Künstler, der hier in einem Genre wildert, das bisher kompetent nur von Get Well Soon verwaltet wurde. Aber die Wundpflege der Liebes- und Identitäts-Verletzungen, die in Jungstötters Texten poetisch salbungsvoll angewendet wird, erhält zusätzliche Veredelung durch die Produktion von Nerven-Spezialist Max Rieger (u.a. Friends of Gas, Drangsal, All diese Gewalt), der sich mit seiner Arbeit an "Love Is" als deutsches Pendant zu Rick Rubin empfiehlt: Er lässt Altstötters dramatisches Potential durch elegante Reduktion aufleuchten.

Die Stücke sind aufregend, auch wenn sie ermattet vor sich hin stolpern. Kitsch und Pathos sind hier immer eine Möglichkeit, aber nie Programm; es bleibt das Unbehauste. Das Spektrum dieses erstaunlichen - und sehr berührend intimen Albums reicht von der sich nach Anohni streckenden Piano-Kammerballade ("The Rain") zum orchestralen Aufwallen mit Feedback-Gitarre ("Wound Wrapped In Song"). "I'm a stranger in this land", barmt Altstötter im windzerklüfteten Schlussstück "To Be Someone Else". Sind wir das nicht alle? Aber Berlin wird dich umarmen. (9.0) Andreas Borcholte

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Josin: In The Blank Space
(Dumont Dumont, seit 25. Januar)

Manchmal gibt es Musik, die man während eines Gesprächs hört, und dann augenblicklich verstummt, weil sie so hinreißend ist. Bei der Singer/Songwriterin Josin ist das so. Ihre Stücke sind so sublim, als wäre es ganz natürlich, dass sich in eine Klavier-Etüde ein Elektro-Beat schleicht. Ein Lied von Josin endet nicht einfach: Es verflüchtigt sich wie Nebel.

Josin, die eigentlich Arabella Rauch heißt, wurde in Köln als Tochter einer Koreanerin und eines Deutschen geboren. Da ihre Eltern Opernsänger sind, war die Möglichkeit einer eigenen Musikkarriere vielleicht zu naheliegend. Sie zog stattdessen nach Nizza, um Medizin zu studieren. Nach einem Jahr brach sie den Weg der Vernunft ab und brachte sich selbst das Komponieren und Produzieren bei, vertieft in Keyboard und Laptop.

Bereits auf ihrer EP "Epilogue" (2017) hat Josin einen derart distinkten Stil entwickelt, losgelöst von klassischen Songstrukturen, dass sie als Newcomerin schon jetzt sehr unverwechselbar klingt. Nur eine Referenz taucht öfter auf: Radiohead. Vermutlich, weil Josins Stimme so verletzlich klingt, so durchdringend falsettierend, dass sie einem beim Hören ganz gemächlich Wunden reißt - an Stellen, für die man sonst drei Thom Yorkes braucht.

Josins Debüt-Album muss man ergründen wie ein Naturforscher: Während man sich wie ein Geologe durch die experimentellen Klangschichten in die Tiefe gräbt, heben die einsetzenden Streicher-Arrangements jede Gravitation auf. In unserer Welt, in der das nächste Geschrei nur einen Klick entfernt ist, sind Josins Stücke in aller Seelenruhe dringlich, und ihre poetischen Texte, wie etwa im Wunderwerk "Healing", lassen erahnen: Leid ist leise. Reiner und schöner ist Musik selten. (8.1) Ariana Zustra

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Arbeitsgruppe Zukunft: Das nächste große Ding
(Staatsakt/Caroline, ab 1. Februar)

Adieu Bescheidenheit! Nach dem Livemitschnitt "Viel Schönes dabei" (2016) veröffentlicht die Arbeitsgruppe Zukunft (AGZ) ihr erstes Studioalbum, und es soll nicht weniger sein als "Das nächste große Ding". Dabei sind die drei Frontmänner eher Neulinge im Popgeschäft: Marc-Uwe Kling machte sich als Poetry-Slammer und Bestseller-Autor ("Känguru Chroniken") einen Namen, Julius Fischer als Poetry-Slammer und TV-Moderator ("Comedy ohne Karsten"). Nur Michael Krebs war schon immer Musiker; als Liedermacher gewann er mehrere Kabarettpreise.

Nach Kleinkunst klang auch das Live-Debüt der AGZ, doch im Studio hat sich der Sound gewandelt. Aus dem Quintett, zu dem noch Ohrbooten-Drummer Markus "Onkel" Lingner und Bassist Boris the Beast gehören, ist eine echte Band geworden. Und die legt sich nicht fest: Mal klingt sie nach den Doofen ("Hättler"), mal nach Monsters of Liedermaching ("Freunde"), Knorkator ("Büro") oder Trio ("Nicht einfach zu finden"). Sie probiert sich in Swing, Country, Nu Metal und erinnert dann wieder an Ben Folds Five ("Die Leute woll'n das so"). Gesanglich gibt es hin und wieder Grenzen, stilistisch nicht. Der rote Faden des Albums ist der Humor; aus Wut werden Pointen. Und die AGZ ist von Vielem genervt: Kunst, Smartphones, Arbeitsalltag, Pendelverkehr - um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Zwar hat die Band ein Faible für sozialkritische Gassenhauer, aber sie wagt auch Anarchisches wie das Was-wäre-wenn-Hitler-keine-Verbrechen-begangen-hätte-Kinderlied "Hättler". Und so simpel lebensnah wie in "Oh" wurde ein verkaterter Morgen schon lange nicht mehr beschrieben. Aber wer viel probiert, schießt manchmal übers Ziel hinaus: Ab und zu verzettelt sich die AGZ im Genre-Rodeo, nicht alle Stile funktionieren gleich gut. Manche Gags wirken auch einfach zu alt: Eine Hip-Hop-Persiflage im Jahr 2019? Wirklich? Andererseits ist "Das nächste große Ding" ein Album, das auf sehr angenehme Weise unzeitgemäß wirkt. (7.8) Lenne Kaffka

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Culk: Culk
(Siluh Records/Cargo, ab 1. Februar)

Bilderbücher mit Prince, Prog-Zitaten und Falco ausmalen kann ja jeder. Abseits der Mehrzweckhallen-Bespaßung hat Österreichs Pop-Szene aber auch noch weniger grell ausgeleuchtete Nischen, in denen sich zum Beispiel die Rockband Culk zu potentiell majestätischer Größe aufrichtet. Das urbane Wörterbuch bietet zum Begriff "Culk" folgende Definitionen an: Entweder es beschreibt den Bodybuilder-Fetisch, Muskeln aufzubauen und gleichzeitig Fett zu verlieren. Oder es beschreibt das Faible mancher Männer, mit ihrem Geschlechtsteil ausgehöhltes Obst und Gemüse zu penetrieren. Beides eher speziell. Die Wiener Musiker um die charmant nuschelnde und nölende Sängerin Sophie Löw geben allerdings keinerlei Begriffsklärung an, wahrscheinlich setzen sie auf den latent brutalen, aber auch lasziven Klang des Wortes.

Das passt zum Eröffnungs-Song ihres Debüt-Albums. "Begierde/Scham", laut Löw von Simone de Beauvoir inspiriert, blickt tief in die perverse Zusammenspiel von Verlangen, Lust, Unterwerfung und Erniedrigung: "Wie Gewitterwolken/ Breitet er sich aus über ihr/ Widerstand/ Erstickt von Wärme, die er ihr gibt/ In ihrer Stille bleibt sie erstarrt/ Alles Gewalt um sie/ Sie sieht ihn nicht an", singt Löw mit qualvoll gedehnten Silben, während sich ihre Band in eine rauschhafte Klimax aus knüppelnden Drums, gleißenden Synthies und peitschenden Gitarren steigert: Shoegaze und Post-Punk im schwellenden Bolero-Takt. Und all das in etwas über drei Minuten.

"Faust" und "Faust II" werden dann musikalisch muskulöser, Bass und Gitarre zitieren "Bullet The Blue Sky", Löw rollt dramatisch das R und zielt mit dem Nebelhorn in die existenzielle Düsternis hinein: "Niemand da, niemand der schraaait, niemand der blaaaibt." Menschen mit Hang zur Schwermut läuft spätestens hier das Herz über. Das obsessive, ekstatische Taumeln am Abgrund setzt sich nach zwei weniger wirkungsvollen, auf Englisch gesungenen Songs in "Vollendung" noch einmal über fünf Minuten und viel Sirenenflehen fort; mit dem Primal-Scream-haften Metallblues "Velvet Morning" ist dann nach einer knappen halben Stunde schon Schluss. Dabei ist man gerade erst angefixt von diesem Suchtsound. (7.5) Andreas Borcholte

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Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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