Album der Woche mit Mustafa Requiem für ein Getto

Debüt eines urbanen Folksängers: Mustafa erzählt sanft und berührend vom sozialen Krieg im Brennpunktkiez von Toronto. »When Smoke Rises« ist unser Album der Woche. Und: Neues von Black Midi, K.I.Z., DMX.
Folksänger Mustafa in Toronto

Folksänger Mustafa in Toronto

Foto: Yasin Osman / Beggars Group

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Album der Woche:

Mustafa – »When Smoke Rises«

Der Soundtrack der Straße ist ein Flow aus harten Beats und smart gereimten Sprechgesängen – so hat es uns die afroamerikanische Hip-Hop-Kultur in den vergangenen vier Jahrzehnten gelehrt. Wenn also ein junger Musiker antritt, um von seiner Jugend an einem einst berüchtigten sozialen Brennpunkt seiner Heimatstadt Toronto zu erzählen, dann erwartet man, dass er es als Rapper tut. Mustafa Ahmed, ein 24-jähriger Musiker aus Toronto, begann seine Karriere durchaus als Spoken-Word-Künstler, seine auf der Straße oder in Jugendzentren vorgetragenen Gedichte brachten ihm seinen frühen Künstlernamen Mustafa The Poet ein, den er für sein Debütalbum auf Mustafa verkürzte. Die große Überraschung ist nun, dass er sich in seinen acht behutsamen Songs als Folksänger mit gezupfter Akustikgitarre und einer sehr berührenden Kloß-im-Hals-Stimme erweist.

Natürlich ist es ein Zufall, dass »When Smoke Rises« in einer Woche erscheint, in der an Bob Dylans 80. Geburtstag und den ersten Todestag von George Floyd erinnert wird, dennoch kommt beides in Mustafas Musik in bezwingender Weise zusammen: Seine traurigen Black-Lives-Matter-Lieder greifen zurück auf die urbane Folk-Kultur der Sechzigerjahre. Künstler wie Dylan oder Joni Mitchell aber, die er früh für sich entdeckte, erzählten ihre sozialkritischen Songs aus rein weißer Perspektive.

Erst beim schwarzen Sänger Richie Havens und dessen Woodstock-Auftritt fand er die Melancholie, die er selbst empfand, die black experience – und erkannte die Kraft von Folkmusik, Schmerz zu bewältigen und Wunden zu heilen. Von hier lässt sich in Mustafas Musik eine Traditionslinie über Tracy Chapman und Ben Harper bis zu aktuellen Genrevertretern wie Moses Sumney und Sampha ziehen, der hier als Gastsänger dabei ist.

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»What About Heaven«, einer der weniger etwas schneller groovenden Songs seines Albums, erinnert zudem auch an Donnie Hathaways »The Ghetto«, ebenfalls aus dem Woodstock-Jahr 1969: Es gibt dieselbe Sehnsucht, die aus dem Leben hineingesampelten Straßensounds, die Folklore, die hier nicht afrokubanische Akzente setzt wie bei Hathaway, sondern afrokanadische: Mustafas Wurzeln sind sudanesisch, Afro-Motive und traditionelle chants, oft von Kindern gesungen, ziehen sich sanft durch viele seiner Songs.

Sie handeln vom Krieg, der jahrelang in den Häuserschluchten von Regent Park ausgefochten wurde, einem der ältesten und über Jahrzehnte hinweg prekären Sozialbauviertel der Metropole am Lake Ontario. Inzwischen ist der Stadtteil aufwendig saniert worden und halbwegs durchgentrifiziert, aber noch Mitte der Nullerjahre erlebte Mustafa als Teenager, wie brutal und blutig die lokalen Gangs um Dealer-Territorien kämpften, wie unbarmherzig die Polizei durchgriff.

»Stay Alive« oder »Air Forces« erzählen davon, dass man nachts besser nicht auf die Straße gehen sollte, dass man sich für das Schlimmste wappnen musste, bewaffnet mit Glock, Schutzweste und Schnapsflasche wie Soldaten auf Himmelfahrtskommando. Es ist ein Krieg der schwarzen Kids im Getto gegen die Verhältnisse, eine gleichgültige oder repressive Staatsmacht, gegen sich selbst und die Perspektivlosigkeit, der hier in 24 eindringlichen und sprachgewaltigen, aber nie aufdringlichen Minuten geschildert wird. Mehrere Freunde von Mustafa ließen ihr Leben, darunter der Rapper Smoke Dawg und sein Kumpel »Ali«, dem das gleichnamige Requiem auf dem Album gewidmet ist.

Zum Ereignis wird dieses Debüt aber auch durch seine zeitgeistige Produktion, an der unter anderem Jamie xx und der ebenfalls britische Elektro-Folk-Musiker James Blake beteiligt waren. Mustafa schrieb bereits Songs mit The Weeknd und für Charts-Sternchen wie Camila Cabello, er weiß um die Pop-Sensibilitäten der Gegenwart und schuf einen durchlässigen, warmen und analogen Sound, der elektronische Geräusche, glitches und drones, sowie Sprachsamples verwendet. Damit knüpft sein hypermoderner Großstadt-Folk einerseits doch noch an das Stilprinzip des Hip-Hops an, andererseits schafft er für seine beklemmende Poesie über Gewalt und Trauer einen umso freieren musikalischen Resonanzraum. Für Gefühle, für Hoffnung, zum Innehalten und Atemholen. (8.2)

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Kurz abgehört:

Black Midi – »Cavalcade«

Zu welcher feierlichen Prozession soll man wohl diese Chaos-Kavalkade spielen? Das zweite Album der Londoner Post-Punk-Prog-Jazz-Idiosynkraten aus dem Umfeld des Windmill-Pubs in Brixton führt energisch fort, was ihr Debüt »Schlagenheim« so umwerfend machte: Stile, Tempi, Genres kollidieren hart, alles bleibt in einer nervösen, aufreizenden Unberechenbarkeit, mit der überraschenden Bossa-Ballade »Marlene Dietrich« als trügerisch sichere Pop-Insel im Sturm. Radioheads Albtraum. (8.0)

K.I.Z. – »Rap über Hass«

»Ich bin kein Sexist: Ich ficke euch alle«, ist eine schöne Zeile aus dem herrlich kathartischen neuen K.I.Z.-Album. Das erfolgreiche Berliner Hip-Hop-Trio amüsiert sich in Interviews darüber, dass man sich nicht auch diesseits der AfD im Bundestag  über ihre in alle Richtungen maximal verachtenden, gewaltsatten und tabubrechenden Texte empört zeigt. Weil man die Künstler links verortet, also schon okay? Pah! »Rap über Hass« nimmt sich betont antizeitgeistig das Recht zu hassen heraus: jeden, alles, Heuchler, Hetzer, Hip-Hopper und andere Heiopeis. Die Fans werden's lieben. (7.5)

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Del Amitri – »Fatal Mistakes«

»Nothing Ever Happens«  hieß 1989 einer der großen Hits der schottischen Band Del Amitri – und so könnte man auch ihr erstes neues Album seit 2002 überschreiben: Nichts passiert. Zum Glück! Die Pop-Hooks und der hymnische Blues sitzen noch ebenso gut wie der Gesang von Justin Currie, immer noch schönster Misanthrop: Sein bitterer neuer Song »Close Your Eyes and Think of England« hätte schon damals im Thatcher-UK gut funktioniert. Nichts ist erledigt, diese Band aber auch nicht. (7.9)

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DMX – »Exodus«

Vielleicht, wahrscheinlich, hat der im April verstorbene Rapstar Earl Simmons alias DMX bereits geahnt, dass dieses Album sein letztes sein könnte, »Exodus« ist aber nicht nach seinem drohenden Abschied betitelt, sondern nach seinem 15. Sohn, der 2016 geboren wurde. Ihm und uns hinterlässt er eines der besten Alben seiner Karriere, ein düsterer, roher und, in der Schlusspredigt »Prayer«, angemessen feierlicher »Hood Blues« eines vom Leben Gebeutelten. Die Produktion von Langzeitfreund Swizz Beatz ist an den richtigen Stellen pointiert, sie lässt den letzten, heiser vorgetragenen Reimen von DMX viel Raum, statt auf Hits zu drängen. Die Gäste, von Alicia Keys bis Jay-Z, sind erlesener New Yorker Musikadel. Nur das »Duett« mit Bono (»Skyscrapers«)… na ja. Farewell. And party up there! (8.5)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

Abgehört im Radio

Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM  ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).

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