
Mutige Pianistinnen Wie man Lust mit Liszt erlebt
Klaviermusik von Franz Liszt! Die Ankündigung verhieß im vergangenen Jahrhundert bei Musikkritikern lange Zeit nicht unbedingt Gutes. Allenfalls akzeptiert als Test für höhere Spieltechnik-Weihen oder fürs Exzentriker-Examen angehender Piano-Titanen. Klavierkenner Joachim Kaiser befand, dass jemand, der Liszts h-moll-Sonate zumindest bewältigte, also "nur" spielen konnte, manuell keine Anforderungen in der Tastenwelt mehr fürchten müsse. Liszt als Führerscheinprüfung - im Kern ein vernichtendes Urteil, von Kaiser sanft ironisch gemeint und oft relativiert.
Viele große Pianisten brillierten gern mit den revolutionären Werken des neben Niccolo Paganini ersten Popstars der Klassik, der sich die Virtuosenstücke gleich selbst auf seine Pianistenhände maßkomponierte. Ob Alfred Brendel, Claudio Arrau oder allen voran Vladimir Horowitz, alle lieferten individuelle Lesarten der Lisztschen Herausforderungen ab - sie ließen sich den Spaß an der Brillanz nicht verderben, und das schamlos vergnügungssüchtige Publikum jubelte ihnen dankbar zu.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war durch vielfältigste Interpretationen die Komponistenehre Liszts wiederhergestellt, das Thema Technik abgehandelt, die revolutionäre Potenz seiner Musik klar ausgelotet. Was blieb da zum Liszt-Jahr 2011 außer Festivals, vieler neuer Buch-Biografien und schöner Reden? Es waren neben anderen zwei Pianistinnen, die sich Liszt neu vornahmen - und Teilen seiner Klaviermusik ganz eigene Aspekte abgewannen.
Der erste Popstar am Piano
Janina Fialkowska, 1951 im kanadischen Montreal geboren, gehörte lange Zeit nicht zu den bekannten Namen auf europäischen Konzertpodien und debütierte in Deutschland erst 2010 mit großem Erfolg beim Schleswig-Holstein Musik Festival. In den vergangenen Jahren war es vor allem die Musik Frédéric Chopins, mit der Janina Fialkowska begeisterte. Ihre letzte CD, "Liszt Recital", verbindet ihre Leidenschaft für Chopin und Liszt, denn neben zwei bekannten Liszt-Evergreens interpretiert Fialkowska sechs Bearbeitungen "Polnischer Lieder" Chopins, die Franz Liszt schuf - natürlich, indem er die ohnehin schon anspruchsvollen Stücke nicht nur pianistisch aufbrezelte, sondern sie auch gleich in seinen Schubert-Liedbearbeitungen neu zu vertiefen suchte.
Fialkowska beweist in diesem CD-Recital ihr subtiles Können schon mit Liszts "Valse caprice No. 6", einem Horowitz-Paradestück, das sie mit geradezu aufreizender Delikatesse und Leichtigkeit spielt, ohne sich von der technischen Brillanz des Wunderwalzers zu sehr in die Pflicht nehmen zu lassen. Distanziert, aber anmutig und klar zupft sie dies Stück Salonzauber in Form, wobei es unter ihren Händen verschämt aufblüht. An Technik denkt man dabei zu keiner Sekunde, das hat sie dem manuell sicherlich potenteren Horowitz voraus. Ähnlich selbstverständlich sprechen die polnischen Lieder, die man sich natürlicher und sinnlicher als unter Fialkowskas feinmechanischer Genauigkeit kaum vorstellen kann: pure Piano-Lust.
Pilgern mit Gesang
Ganz anders Ragna Schirmer, die fast eine Generation von Janina Fialkowska trennt. 1972 in Hildesheim geboren, unterrichtet Schirmer heute in Halle eine Klavier-Meisterklasse, und ein wenig von der Dozententätigkeit prägt auch - im guten Sinne - ihr Klavierspiel. Mit großer Deutlichkeit und sicherem Gespür für Proportionen hatte sie 2009 Händels Klavier-Suiten eingespielt, und etwas von der didaktischen Exaktheit und Zurückhaltung hat sich auch auf ihrer Version des Zyklus "Années de Pèlerinage" übertragen. Damit nicht genug: Vor den Aufnahmesitzungen reiste Ragna Schirmer zu eben jenen Stationen, die auch Franz Liszt ansteuerte, bevor er die Kompositionen zu Papier brachte.
Der Trip durch die Schweiz und Italien ist auch in vielen Notizen Schirmers dokumentiert, die sich im hübsch gestalteten CD-Booklet finden. Nicht genug damit: Zwischen einzelnen Abschnitten sind Madrigale der Komponisten Carlo Gesualdo (1566-1613) aus Neapel und Luca Marenzio (1553-1599) aus Brescia eingefügt; kennerisch interpretiert vom Gesangsensemble Amarcord, das aus Mitgliedern des Leipziger Thomanerchores hervorging. Die Innigkeit der Vokalstücke stellt Ragna Schirmer der kühlen Geste ihrer Liszt-Interpretationen gegenüber, was zu schlüssigen Akzentverschiebungen führt.
Der Fluss der Lisztschen Reise wird durch die Gesänge keinesfalls gestaut, sondern durch das Innehalten eher intensiviert. So ergibt sich der klassische Effekt: Das Ganze - immerhin drei CDs - ist mehr als die Summe seiner Teile. Mit klugem Ansatz rechtfertigt sich dann auch eine weitere Aufnahme dieses im Katalog gewiss nicht unterrepräsentierten Werkzyklus.