Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Warum die Arctic Monkeys mit "AM" eines der Mainstream-Pop-Alben des Jahres vorlegen? Lesen Sie hier. Außerdem: Warum The Weeknd das große R&B-Versprechen nicht einlösen, was Adolar mit Tocotronic gemein haben - und wie man als Rock-Opa mit Dawes glücklich wird.
Von Andreas Borcholte und Jan Wigger

Arctic Monkeys - "AM"
(Domino/Goodtogo, seit 6. September)

"There's this tune I found that makes me think of you somehow/ And I play it on repeat until I fall asleep/ Spilling drinks on my settee", singt Alex Turner im ersten Song des fünften Arctic-Monkeys-Albums, sinister, trunken, wahnsinnig vor Liebeskummer. Ein monotoner Bluesrock rollt darunter entlang, den nicht wenige Kritiker etwas einfallslos mit den Black Keys verglichen haben. Aber dann erhebt sich die ganze Band zum Eunuchenchor des Refrains: "Do I wanna know/ If this feeling flows both ways?" - ein verblüffender Stilwechsel vom muskulösen Rock zum R&B-Groove der Neptunes oder Justin Timberlakes. "AM", sagte Turner dem "NME", sei "like a Dr. Dre beat, but we've given it an Ike Turner bowl-cut and sent it galloping across the desert on a Stratocaster".

Tatsächlich bewegen sich die Arctic Monkeys sieben Jahre nach ihrem Debüt selbstsicherer denn je an der Schnittstelle zwischen dem Post-Punk und Alt-Rock, dem sie entstammen und dem modernen Pop- und Soul-Feeling, das auf ihren früheren Alben nur mitschwang. Eine Band ist immer dann gut, wenn sie den Lärm wegstreichen kann, sich aufs Wesentliche, auf ihre Essenz reduzieren kann, Leerstellen lässt. Die Arctic Monkeys schienen das von Anfang an zu beherrschen, das machte Songs wie "Dancing Shoes" oder "Still Take You Home" vom Debüt so packend und rechtfertigte den durch YouTube befeuerten Über-Nacht-Erfolg allemal. In den Jahren danach probierten die Jungs aus Sheffield viel aus, ließen sich auf "Humbug" von Kumpel Josh Homme (diesmal auch wieder dabei) den Brit-Sound austreiben - und scheinen jetzt in sich zu ruhen, so souverän klingt allein die erste Hälfte von "AM". Das erwähnte "Do I Wanna Know" ist genau so ein Song, den man in jenen verzweifelten Nächten in Endlos-Schleife hört, wenn man darauf wartet, dass SIE endlich anruft. "R U Mine" knüpft mit triumphierenden Gitarrenriffs an die frühe Explosivität der Monkeys an, "One For The Road" ist ein schwitziger G-Funk, der aus den Neunzigern herübergebeamt wurde, gleiches gilt, weiter hinten, für "Why'd You Only Call Me When You're High" (in dem Turner sogar rappt), das Outkast-würdige "Snap Out Of It" und die veritable R&B-Ballade "I Wanna Be Yours". "Arabella", auf einem Black-Sabbath-würdigen Riff aufsitzend, zeigt noch einmal die Dynamik, die sich die Briten von US-Kollegen wie Queens Of The Stone Age abgeguckt haben. Die Beatles-Hommage "No. 1 Party Anthem" ist ein "Don't Look Back In Anger" für die Zehner-Jahre. "Mad Sounds", mit heftig schwelgender Orgel, erinnert an den nüchternen Blue-Eyed-Soul von Lloyd Cole.

All das vereint sich zu einem überraschend schlüssigen Gesamtbild, auf das Songwriter Alex Turner mal lüsterne, mal frustrierte Phantasmen aus den alkoholisierten wee small hours projiziert. In manchen britischen Blättern wurde bereits vom Dekade-definierenden Album geschrieben. So weit muss man nicht gehen, aber wahr ist, dass es momentan wohl keiner Band so souverän gelingt, die beiden vorherrschenden Musiktrends, Retro-Blues und R&B, in 12 sehr konzentrierten, dennoch extrem lässigen Songs miteinander zu verschmelzen. Das macht "AM", so unwahrscheinlich man das finden mag, zu einem der besten Mainstream-Pop-Alben des Jahres und die Arctic Monkeys zur global gültigen Band. They still look good on the dancefloor. (8.4) Andreas Borcholte

"R U Mine/Why'd You Only Call Me When You're High"-Videoclip auf tape.tv ansehen 

The Weeknd - "Kiss Land"
(Republic/Universal, seit 6. September)

Zwei Sachen darf man Adam Tesfaye eigentlich nicht durchgehen lassen. Erstens: Man verwendet nicht einfach ein prominentes Sample eines Portishead-Stücks ("Machine Gun"), ohne um Erlaubnis zu fragen (in "Belong To The World"). Zweitens: Wenn man schon einen ganzen Song um den unterträglichen Achtziger-Smasher "Precious Little Diamond" (von Fox The Fox!) herumbaut und auch noch den Refrain eins zu eins nachsingt, dann sollte man sich nicht nur wegen Geschmacklosigkeit in Grund und Boden schämen, sondern die offensichtliche Coverversion nicht irreführend "Wanderlust" nennen. Und dann wären da noch die hallenden Genesis-Drums und die protzenden Synthies aus der überwunden geglaubten Hölle ca. 1985 bis '87.

Kurzum: Tesfayes erstes "richtiges" Album, das noch dazu bei einem Major-Label herauskommt, lässt so ziemlich alles vermissen, was die drei unlängst zur "Trilogy" zusammengefassten Mixtapes des Kanadiers zu den einflussreichsten R&B-Produktionen der letzten zwei Jahre machte: die Faszination einer total isolierten, in ihrem eigenen Kosmos existierenden Seele, das lüstern Nebulöse. Denn "Kiss Land" handelt vor allem davon, wie Tesfaye, der sich bis vor kurzem nicht interviewen ließ und keine Fotos von sich veröffentlichte, zu einer Person wandelt, die irgendwie zur Szene dazugehört, sich mit den Annehmlichkeiten arrangiert und gleichzeitig mit den Schattenseiten hadert: "So you're a somebody now/But what's a somebody in a nobody town", singt er in "Professional". Nur manchmal, im plötzlich störenden Blechgehämmer in der Mitte von "The Town", in der Kavinsky-Kollaboration "Odd Look" oder im sehnenden, echte Emotion und Zerrissenheit transportierenden "Belong To The World", scheint Tesfayes großes Talent durch, seine abgründigen Geschichten von Selbsthass, Sexsucht, Misgynismus, Machismo und Drogen-Bravado in funkelnde Pop-Hymnen zu gießen - mit einer Stimme, die immer wieder aufs Unheimlichste an Michael Jackson erinnert, oder besser: an dessen weniger aseptischen Schurken-Bruder. In diesen Momenten kommt "Kiss Land", auch wegen seiner bis auf wenige Ausnahmen konsequenten Melodie- und Hook-Verweigerung, der Verstörung von Kanye Wests Querschläger-Monument "Yeezus" nahe, mit anderen Mitteln, versteht sich.

Doch während West sich von den Verlockungen bombastischer Produktionen bereits zugunsten eines enervierenden Minimalismus emanzipiert hat, schöpft Tesfaye gerade zum ersten Mal aus dem Vollen, dreht alle Regler auf Anschlag, schüttet und kleistert die Zwischentöne, die ihn so besonders gemacht haben, mit Klang-Schmonz zu. Das in der Szene neugierig erwartete Debüt des Wunderkinds gerinnt daher auf weite Strecken zum schwierigen, allzu plumpen Übergangswerk. "This ain't nothing to relate to, even if you tried", singt Tesfaye im Titelstück. Schade, aber bis auf weiteres ist das so. (6.0) Andreas Borcholte

"Kiss Land" (Album Prelistening)-Videoclip auf tape.tv ansehen 

Dawes - "Stories Don't End"
(Mercury/Universal, seit 6. September)

Ja, ja, ich weiß, Eure letzte gekaufte Platte, das ist dreizehn Jahre her, Euer letztes Konzert war Van Morrison in irgendeinem Stadtpark oder Bob Dylan in einem schlecht belüfteten, dafür aber großen Club, und meinetwegen, dann ist halt seit 1978 wirklich nichts mehr erschienen, was den Kauf gerechtfertigt hätte, und jetzt, wo man auch noch Enkel hat, ist Zeit ein knappes Gut usw. usf. Ich sage trotzdem unmissverständlich: Rock-Opis, wenn Ihr mit dem guten alten Westcoast/Laurel Canyon-Sound der späten Sechziger aufgewachsen seid, wenn ihr "Crosby, Stills & Nash", "Late For The Sky" und "The Notorious Byrd Brothers" zu euren Herzensplatten zählt, müsst ihr die neue Dawes (aus L.A) haben! Dasselbe gilt für euch Schanzenschluffis, Lebenskünstler, Bartträger und Rumhänger: Ihr liebt die erste Fleet Foxes, Midlake und Band Of Horses (bevor sie blöde wurden)? Dann ist dies eure Platte! (Ich merke gerade, dass ich Götz Kühnemund imitiere; ich bitte vielmals um Entschuldigung.) "Stories Don't End" hat den wärmsten, besänftigendsten Klang seit Midlakes "The Trials Of Van Occupanther" (oder John Grants "Queen Of Denmark") und dass auf dem phantastischen "Just Beneath The Surface" doch nicht Jackson Browne singt, ist eine mittelschwere Sensation. Songs wie "Bear Witness" oder "Hey Lover" gehören eindeutig nicht in diese Zeit, weshalb man aufschreckt bei Textzeilen wie "But I want to ride with her I wish I sung that well/ Just copy paste Google search and send it to myself". Ungläubige sollten sich auch mit der kurzen, zu Tränen rührenden Reprise von "Just Beneath The Surface" beschäftigen: "Just beneath the surface/ There's another one of her/ The one I'm taking with me/ The one that I prefer." Ein Ansatz, ein Versuch: In the shape of a heart. (8.2) Jan Wigger

"From A Window Seat"-Videoclip auf tape.tv ansehen 

Adolar - "Die Kälte der neuen Biederkeit"
(Zeitstrafe/Indigo, seit 6. September)

Ich verlasse das Haus nicht, gehe niemals aus, und doch bin ich mit dem heutigen Tag ein Pariah, ein Leprakranker, ein Aussätziger der Gesellschaft - denn ich schreibe über Adolar. Zur Erklärung sei gesagt, dass die Rockgruppe aus Sachsen-Anhalt in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, in welchem man sich zur eigenen Belustigung jederzeit YouTube-Links heimischer Post-Hardcore- und Emo-Bands hin- und herschickt ("Käfer K - wie fertig ist bitte dieser Bandname?" - "Klingt wie Van Pelt auf deutsch, rofl!"), einigermaßen verhasst ist. Dies mag an den eher unangenehmen Videos zu "Tanzenkotzen" und "Halleluja" liegen, oder an ganz persönlichen Verstimmtheiten - gerecht ist diese Abneigung nicht, denn "Die Kälte der neuen Biederkeit" (prätentiös, aber wahr) ist eine gute Platte. Beabsichtigt oder unbeabsichtigt rufen Adolar textlich die alten Tocotronic ins Gedächtnis: "Jetzt gebt mir meinen Verstand zurück", "Ich wollte irgendwer für euch sein" und vor Jahren, auf "Mariokart vs Kettcar": "Und ich mag dich nicht mehr so". Adolar sind bewegt und überzeugungswütig, sie begeben sich freiwillig in die kleinbürgerlichsten, spießerhaftesten Situationen ("Glas an Glas erklingt/ Die goldene Katze winkt/ Und ich hör jetzt schon, wie dein Vater Halleluja singt"), nur um hinterher festzustellen, dass alles exakt so ist, wie vorher vermutet. Woher stammt die Faszination für vier, fünf Stücke auf "Die Kälte der neuen Biederkeit"? Nun, wohl doch zuallererst von meiner bekannten Vorliebe für simple, expressive und bezwingende Melodien: "Übers Ende der Welt", "Totgeliebt", "Sonnensystem" und "Humanoid" bei Tokio Hotel, "Raketen", "Blumen" und "Salmiak" bei Adolar. Und so wie ich "Kanüle" höre, mögen zwei, drei Leute in der Band die jungen Cure und Interpols "Stella Was A Diver And She Was Always Down" gern. Wer angibt, hat mehr vom Leben. (6.9) Jan Wigger

"Hallelujah"-Videoclip auf tape.tv ansehen 

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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