Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Warum das bejubelte Eminem-Album "The Marshall Mathers LP 2" nicht wirklich ein Grund zur Freude ist? Lesen Sie hier. Außerdem: das erstaunlich souveräne Debüt der schüchternen britischen Popband London Grammar, ein verschollen geglaubtes Psychedelic-Juwel und ein US-Elektroniker, der YouTube-Stimmen sampelt.

Eminem - "The Marshall Mathers LP 2"
(Interscope/Universal, seit 5. November)

Es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass dieselben 35- bis 45-Jährigen, die sich im Frühjahr gar nicht mehr einkriegten, als David Bowie sein unwahrscheinliches Comeback inszenierte, nun auf den einschlägigen Verbreitungsplattformen auch wegen Eminems Rückkehr ausrasten. Abgesehen davon, dass beide Alben dem Hype nicht standhalten und lediglich Bekanntes variieren, entlarven sich alle jene, die sich mit ihren Instant-Begeisterungen am Puls der Zeit wähnen, als Pop-Nostalgiker, die wahrscheinlich zu bequem oder desinteressiert sind, um sich noch mit wirklich neuer Musik beschäftigen zu wollen. Daran ist ist nichts Verwerfliches. Man wird älter, man fühlt sich im Gewohnten wohl... Normalität.

Insofern ist "The Marshall Mathers LP 2" vor allem ein cleveres, auf den Markt zugeschnittenes Produkt, das den alten Fan in jener verklärten Zeit vor 13 Jahren abholt, als es chic war, Eminem zu hören und mit "The Marshall Mathers LP" sein bestes und vielseitigstes Album herauskam. Geschickt streut der heute 41-Jährige in den neuen Stücken immer wieder Samples und Verweise auf den Vorgänger ein, Wiedererkennungswert garantiert. Im epischen "Bad Guy", mit dem das rund 80 Minuten lange Album eröffnet wird, lässt er mit Matthew Mitchell sogar den fiktiven Bruder von "Stan" auftreten, jenem Fan, der sich im gleichnamigen Song von 2000 umbringt, weil ihm sein Idol Eminem nicht genug Aufmerksamkeit schenkt. Bruder Matthew trachtet dem Rapper nun nach dem Leben. Am Ende des Songs erklärt Eminem das alles als autoaggressives Rollenspiel: "Tragic portrait of an artist tortured/ trapped in his own drawings/ Into thoughts blacker and darker than anything imaginable".

Marshall Mathers, der sein Hasskappen-Alter-Ego Slim Shady immer dann herauslässt, wenn Eltern, Schulhof-Bullys, Frauen, Schwule, Fans, andere Rapper oder der Rest der Welt verbal niedergekämpft werden müssen, darf also nochmal paradieren, aber heute eben stets mit dem augenzwinkernden Verweis, dass ja, haha, alles nicht so gemeint ist, Ironie oder Therapie, Teil der großen Eminem-Show. So funktioniert es auch in "So Much Better", einer neuerlichen, fiesen Attacke gegen Ex-Frau Kim: "I'm just playing, bitch. You know, I love you", schickt er ganz am Ende schnell noch hinterher. Einzig in "Headlights", eine selbstreflexive Besinnungs-Hymne an seine Mutter, der er in der Vergangenheit (u.a. im Hit "Cleaning Out My Closet") arg zugesetzt hat, spürt man eine gewisse Aufrichtigkeit. Der Rest bleibt opportunistische Pose: Mal geläuterter Ex-Junkie und -Hater, mal rabulistischer Giftzwerg. Das Perfide daran: Durch den Anschein der altersweisen Läuterung, den Eminem hier suggeriert, erlaubt er auch seinem gebildeteren und gesetzteren Fan, mal kräftig und politisch unkorrekt "Bitch" oder "Schwuchtel" zu rufen. Was für ein Spaß.

Technisch kann ihm dabei noch immer kaum ein Konkurrent das Wasser reichen. Eminem ist ein versierter, wenn nicht brillanter Reimer, der selbst sperrigste Wörter und Grammatik in seinen Stakkato-Flow zu zwingen vermag. Anders als bei den zeitgenössischen Alben von Kanye West, Drake, Frank Ocean oder Kendrick Lamar (der sich hier als Gast-Rapper in "Love Game" unterverkaufen muss), fehlt es seinem Duktus jedoch an echter Emotion. Eine Tatsache, die er durch inflationären Einsatz mehr oder minder bekannter Sänger und Sängerinnen (u.a. Rihanna) wettzumachen sucht, die vielen Stücken klebrige Pathos-Refrains verpassen, um Pseudo-Gefühligkeit zu plakatieren. Damit hebelt Eminem den ätzenden Spott gegen die "Fags", wie er in "Rap God" seine sensiblen Nachfolger in den Charts in "Rap God" schimpft, selbst wieder aus: Über weite Strecken ist "MMLP 2" schlimmster Mainstream-Pop, der sich schamlos dem Massen-Radio anbiedert. Statt sich musikalisch in moderne, experimentelle HipHop-Gefilde (siehe Kanye, The Weeknd) zu wagen, lässt er sich von Teil-Produzent Rick Rubin ein paar griffige Rock-Klassiker (u.a. von Joe Walsh und den Zombies) als Rap-Basis zurechtschneidern - oder ergibt sich gleich totaler Retromanie, wie im Beastie-Boys-Metalrap von "Bezerk".

Da wirkt das rührselige Cover-Foto der aufgelassenen, verrammelten Mathers-Residenz im Eight-Mile-Bezirk von Detroit schon ganz stimmig: Es ist höchste Zeit, die alte Hütte, die alten Konflikte, den alten Hass hinter sich zu lassen, wie bereits mit den Alben "Relapse" und "Recovery" versuchsweise angedeutet. Ein letztes Mal wollte Eminem wohl noch abkassieren. (4.0) Andreas Borcholte

"Berzerk"-Videoclip von Eminem auf tape.tv ansehen 

London Grammar - "If You Wait"
(Island/Universal, ab 15. November)

"Maybe I'm waisting my young years/ It doesn't matter if I'm chasing old ideas", singt Hannah Reid im bisher bekanntesten Song ihrer Band London Grammar. Das beinhaltet nicht nur das trotzig-romantische Festhalten an einer Liebe, die vielleicht schon ihr Haltbarkeitsdatum überschritten hat, sondern, auf musikalischer Meta-Ebene, auch die Hinwendung zu etablierten Vorbildern. Von Verschwendung der Jugend kann allerdings keine Rede sein: Die blutjungen Studenten aus Nottingham haben vor nicht mal einem Jahr ihren ersten Song, den Album-Opener "Hey Now", aufgenommen und wurden noch vor Veröffentlichung ihres Debüts für den britischen Mercury Prize nominiert. London Grammar scheinen zunächst eine enge Verwandtschaft mit The xx zu pflegen, so verhuscht, zittrig und intim wirken die sparsamen Arrangements aus gepickter Gitarre, sanft geschlagener Percussion und geklimperten Piano. Und auch in den Texten geht es um schüchternes Verharren, das Zögern vor der großen Liebesentscheidung, die trüben Momente, die man schweigend neben dem Partner sitzt, wenn alles und nichts gesagt ist. Alleinstellungsmerkmal ist allerdings Reids kraftvoll und dunkel aufheulende Stimme, ein emotionaler Impetus, vor dem sich Romy Madley-Croft wahrscheinlich vor Schreck unter der Bettdecke verstecken würde. Die Sicherheit, mit der das Trio seinen aus Achtziger-Pathos, Kate Bush und aktuellem Glitch-Pop komponierten Sound als ureigen etabliert, spottet seinem Anfängerstatus. Auf Albumlänge schlägt diese Perfektion manchmal in eine gewisse Flächigkeit um, besonders wenn die Songs nicht durch einen sachten Dubstep-Beat angetrieben werden, sondern im Gefühlsbad vor sich hin simmern. Aber wer die Hingabe und Konzentration von London Grammar live bewundern durfte, wie unlängst im "Grünen Salon" der Berliner Volksbühne, der weiß, dass "If You Wait" erst ein Vorgeschmack sein dürfte. Wer Chris Isaaks unerträglich abgenudelter Schnulze "Wicked Game" noch neuen Zauber entlocken kann, ist zu allem fähig. (7.8) Andreas Borcholte

"Wasting My Young Years"-Videoclip auf tape.tv ansehen 

Damon - "Song Of A Gypsy" (Re-Issue)
(Now-Again Records/Groove Attack, seit 5. November)

Ich sehe meinen guten Freund Thomas aus München praktisch vor mir, wie er mich mit dieser sympathisch-entspannten Kennermiene, die ihm zu eigen ist, milde anlächelt und so etwas sagt wie: "Die Damon-Platte? Ja, klar, die hab' ich auch irgendwo, die ist super. Aber für die musst du wahrscheinlich ein paar hundert hinblättern, wenn du sie irgendwo auftreibst." Tja, mein Lieber, wenn Du das Original wirklich besitzt, wovon ich ausgehe, dann halte es gut fest, denn es soll, so wird in Sammlerkreisen gemunkelt, nur rund 500 einst selbstgepresste und selbstvertriebene Exemplare davon geben. Dank Now-Again-Labelboss Eothen "Egon" Alapatt, noch so einem Crate-Digger erster Güte, ist dieses verschollene, gesuchte Artefakt des Psychedelic-Rocks nun aber auch wieder für die Allgemeinheit zugänglich. David Del Conte alias Damon nahm sein einziges reguläres Album 1969 in Los Angeles mit ein paar befreundeten Musikern und dem Fuzz-Gitarristen Charlie Carey auf, nachdem sein bis dato glückloses, zerklüftetes Leben durch eine Begegnung mit George Harrison, Ravi Shankar und dem Maharishi Mahesh Yogi in Big Sur eine spirituelle Wendung bekam. So zumindest geht die Legende. "Song Of A Gypsy" ist eine faszinierende halbe Stunde seelenschürfender, schamanischer Hippie-Rock, der von den schattigeren Szenerien des Liebessommers erzählt. Damons Vorbilder Jefferson Airplane, Donovan und vor allem Jim Morrison sind deutlich vernehmbar, was der düsteren Magie der Songs keinen Abbruch tut - der unterschwelligen Spannung von "Poor Poor Genie", dem Schlangenbeschwörer-Groove von "Do You Ever", dem durch alle Türen der Wahrnehmung drängenden "Funky Funky Blues" oder dem hypnotischen Sprechgesang von "The Road To Life". Die liebevoll zusammengestellte und mit ausführlichen Liner-Notes sowie Damon-Interview ausgestattete Neuveröffentlichung enthält auch noch eine zweite CD mit lose zwischen 1959 und 1967 als Damon Lane oder David Del Conte veröffentlichen Singles, die teils interessant zwischen Surf und R&B mäandern, aber nie die Kraft des "Gypsy" erreichen. Wie zuletzt Rodrigues dürfte sich auch dieser aus der Vergessenheit katapultierte Ruheständler jetzt über Aufmerksamkeit freuen, die ihm vor 45 Jahren verwehrt wurde. Gut für ihn. Gut für uns. (8.0) Andreas Borcholte

The Range - "Nonfiction"
(Donky Pitch/Import oder Download, seit 14. Oktober)

Ist vielleicht ganz okay, dass es diese Platte in Deutschland nicht als Tonträger zu erwerben gibt, denn was immer den US-Produzenten James Hinton geritten hat, als er das Cover-Design für sein Debüt-Album in Auftrag gab, es muss seinen Geschmackssinn nachhaltig verwirrt haben: Ich dachte angesichts dieser komisch-konzentrischen, kakteenbewachsenen Trümmer erst an Midnight Oil, dann an späte Pink-Floyd-Alben, also nicht unbedingt zwingende Kaufreize. Auch der Moniker, unter dem Hinton seine eigene Musik veröffentlicht, The Range, erinnert an gesichtslose Rockpopgruppen der Achtziger und Neunziger. Schade eigentlich, denn hinter dem ebenso phantasielosen Titel "Nonfiction" verbirgt sich eine der aufregenderen Elektro-Veröffentlichungen des Jahres. Der 25-Jährige aus Rhode Island suchte sich für Stücke wie "Metal Swing", "Jamie" oder "FM Myth" auf YouTube Sprachsamples ganz normaler Menschen zusammen, die sich world weary über ihren Alltag beklagen. Darunter legte er durchaus optimistische Klänge: heitere Synthies, perlendes House-Piano, puckernde Beats, ambientes Treiben. Das grenzt manchmal an den Eso-Pop von Moby ("Everything But"), manchmal an die Agitprop-Experimente von Consolidated ("Loftmane"), zumeist aber ist Hintons Musik ein Tasten und Fühlen nach Stimmungen und Atmosphären im Forschungsbereich von Kollegen wie Tim Hecker. Wo der Kanadier jedoch eskapistisch ins Sakrale oder evolutionär Ursuppige zu driften neigt, bleibt Hintons flüchtiges Geflirre mit mindestens einer Sonde auf der Straße, im allgegenwärtigen Geschnatter. Ein Soundtrack fürs Meditieren überm Twitterfeed. (7.5) Andreas Borcholte

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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Foto: SPIEGEL ONLINE

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