Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Goldfrapp - "Tales Of Us"
(Mute/Goodtogo, seit 6. September)
"Ich wollte etwas schaffen, das mir wirklich etwas bedeutet, und einfach mal sehen, wie weit wir gehen können, wenn wir alles Überflüssige weglassen", sagte Alison Goldfrapp mir vor kurzem in einem Interview, das wir in London nach ihrem Konzert im Innenhof des Somerset House führten. Nur nebenbei erwähnt: großartiger Auftritt! Angesichts dieser rund zweistündigen, extrem vielseitigen Popshow mit Songs aus 13 Jahren Bandgeschichte fragte ich mich, warum Goldfrapp eigentlich nicht berühmter sind. Kennt ja, zumindest außerhalb Großbritanniens, kaum jemand wirklich. Dabei gibt es gar nicht so viele Sängerinnen in der Branche, die so etwas können, und das mit 47! Madonna vielleicht, aber die hampelt ja lieber rum, als dass sie live singt.
"Tales Of Us" folgt auf die von den meisten Kritikern eher skeptisch rezipierte Achtziger-Pop-Alptraum "Head First", einem scheußlich-faszinierenden Magenverderber aus überzuckerten Synthie-Hooks. Das neue Album von Goldfrapp und ihrem musikalischen Partner Will Gregory ist so etwas wie das Gegengift, denn noch nicht mal sie selbst war zufrieden mit "Head First": "It's not my favorite", sagt sie, mit britischem Understatement, über die Platte, die viel zu hastig und in einer Zeit der privaten und geschäftlichen Unruhe entstanden sei. Ganz anders nun "Tales Of Us", ein konzeptionell streng geschlossener Song-Zyklus, der tatsächlich extrem reduziert und konzentriert wirkt. Alpträume finden sich auch darauf, aber sie sind nicht musikalischer Natur, sondern spielen sich in den tragischen oder verruchten, auf jeden Fall verstörenden Noir-Geschichten ab, die, bis auf eine Ausnahme, die Namen ihrer Protagonisten tragen: "Annabel" zum Beispiel, basierend auf Kathleen Winters gleichnamiger Novelle über den emotionalen Stress eines Hermaphroditen, dem als Kind das weibliche Geschlechtsorgan zugenäht wurde.
Als Inspiration für diese Storys aus dem "hinterland of my mind", wie sie das nennt, dienten ihr Krimis, vor allem die Bücher von Patricia Highsmith, die sie in den vergangenen Jahren mit wachsender Begeisterung verschlang. Dazu kommt das Kinematische, das in Goldfrapps Musik immer schon mitschwang, die Bond-Soundtracks, die Morricone-Sehnsucht, der Zigarettenqualm von Nouvelle-Vague-Filmen. Goldfrapps ewiger Favorit Nick Drake spielt hier musikalisch wieder eine größere Rolle, besonders in "Drew", das zu Beginn fast wie eine Coverversion von "One Of These Things First" wirkt, allerdings gesungen von Françoise Hardy oder einer anderen Sixties-Chanteuse, die Alison verehrt. Daraus destilliert sich einmal mehr ein betörender, nokturner Sound aus blumenumrankten Zauberfolk und kühler Urbanität, der, nach kühnen Experimenten mit Elektro und Glam-Rock, wieder bis zum Goldfrapp-Debüt "Felt Mountain" zurückreicht.
Dennoch sind 13 Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Nachdem sich bei Alison auch privat die Wogen geglättet haben (sie lebt seit 2010 mit ihrer Freundin Lisa Gunning zusammen, die auch eine Reihe von Kurzfilmen zum neuen Album drehte), spürt man eine größere Gelassenheit, eine gefestigte Souveränität in den neuen Songs, die teilweise, wie in den in reichhaltige Streicher-Arrangements getauchten "Thea" und "Stranger", in klassisches American-Songbook-Terrain vordringen wollen und den opulenten Pop von Burt Bacharach oder den Carpenters beschwören.
"Größtmögliche Simplizität und Intimität, aber ohne die ganzen Klang-Schichten, mit denen wir zuvor vieles zugedeckt haben", wollte Alison Goldfrapp erreichen, sagt sie. Und das ist auf recht unauffällig beeindruckende Weise gelungen, auch wenn britische und amerikanische Kritiker die Radikalität früherer Alben vermissen. Dabei ist doch gerade die Minimalisierung der radikalste Schritt, weil er den größten Mut erfordert. Um so unwirklich schöne Songs wie die zehn auf "Tales Of Us" zu schaffen, muss man sehr genau wissen, was man tut und was man kann. Beim nächsten Album, wer weiß das schon bei einem so unberechenbaren Duo, darf's dann wieder mehr knistern und krachen. (8.0) Andreas Borcholte
Elvis Costello & The Roots - "Wise Up Ghost"
(Blue Note/Universal, seit 13. September)
Hat eigentlich irgendjemand geglaubt, dass dieses Album NICHT großartig werden würde? Gut, Elvis Costellos Geschmackssicherheit kann man sich nicht immer sicher sein, ich erinnere hier nur an seine unheilige Allianz mit Fall Out Boy oder die grauenhaften "Juliet Letters" mit dem Brodsky Quartett. Schlimm! Mit den Roots konnte es old MacManus allerdings kaum versauen, denn die HipHoper/Jazzer aus Philadelphia sind derzeit die in jedem Fall vielseitigste, wenn nicht gar beste Band der Welt. Bin ich von Sinnen? Keineswegs! Man muss sich ja nur mal kurz vergegenwärtigen, was Bandleader Ahmir Khalib Thompson alias Questlove und seine Jungs alltäglich als Hausband des US-Late-Talkers Jimmy Fallon vollbringen. Studioband zu sein, ist eh das Härteste, was man als Musiker machen kann (nicht wahr, Helmut Zerlett?), aber diese Muzak-Manufaktur zu transzendieren, sie in eine Kunst des Improvisierens und Hommagierens umzudeuten, das ist ganz großes Entertainment - noch dazu in einer Präzision und Virtuosität, die ihresgleichen sucht.
Allein wenn "Captain" Kirk Douglas und Questlove bei Fallon als "Black Simon and Garfunkel" auftreten und Daft Punks "Get Lucky" kongenial mit "The Boxer" kreuzen oder wenn die gesamte Mannschaft mit bimmelndem, rasselnden und klöppelndem Groove Robin Thicke zu "Blurred Lines" begleitet, dann weiß man, dass im Zusammenspiel mit diesen Meistern selbst mit dem übellaunigsten, didaktischsten aller Costellos nichts passieren kann.
Tatsächlich also ist "Wise Up Ghost" ein Wunderwerk. Aber es war knapp. Denn Costello, in einem Anfall von Altersarroganz, schrieb keine wirklich neuen Songs für die Kollaboration, sondern sampelte (weil: HipHop, duh) einige Verse seiner alten Hits. Welche und wo, das kann sich der geneigte Costelloianer selbst raussuchen, mir reichte schon "Cinco Minutos Con Vos", was den ollen Falkland-Krieg-Gassenhauer "Shipbuilding" aus argentinischer Perspektive spiegelt. Zu akademisch für ein Pop-Album? Ganz genau. Und gleichzeitig der schwächste Song auf dem Album.
Aber sonst? So zartschmelzend wie im Southern-Soul von "Sugar Won't Work" klang Elvis seit seinen Duetten mit Burt Bacharach nicht mehr. In "Refused To Be Saved" legt er seine Stimme gekonnt tiefer - und über einen rollenden Funk, der Isaac Hayes aus der Grube holt. Noch deeper wird es in "Wake Me Up", während "Stick Out Your Tongue" mit zackigen Bläser- und Orgel-Licks direkt in die Stax-Zentrale nach Memphis führt, um dort für die nächsten Songs zu verharren. "(She Might Be A) Grenade", "Viceroy's Row" und "My New Haunt" sind weitere Höhepunkte, in denen das, was prinzipiell nicht zusammenpasst, Soulfood und Porridge, zum Zaubergebräu wird. Bei über einer Stunde Spielzeit ist nicht alles gleichermaßen meisterlich, dennoch verführt jedes der 15 Stücke zum genauen Hinhören - ob wegen der vordergründig simplen, in Wahrheit aber hochkomplexen, verspielten Arrangements ("Tripwire") oder einfach weil man Elvis Costello seit den frühen Attractions-Platten nicht mehr so inspiriert erlebt hat. Und jetzt soll Justin Timberlake bitte endlich dem alten Langweiler Timbaland einen Tritt geben und die nächste Platte mit den Roots aufnehmen. (7.9) Andreas Borcholte
Múm - "Smilewound"
(Morr Music/Indigo, seit 6. September)
"Slow down/ So I can catch you/ I'm in love with you": Die Kleinen, die Niedlichen, die Entzückenden sind wieder da. Dabei hatten Múm aus Island ihren größten Auftritt doch im Meisterfilm "Until The Light Takes Us", wo die Band zwar logischerweise nicht auftauchte, aber doch die nächtlichen Spaziergänge von Darkthrone-Fenriz und die kruden Theorien von Hewhocannotbenamed mit ihrem tollsten Track "The Ballad Of The Broken Records" untermalen durften. Das Cover zur siebten Múm-Platte "Smilewound" zeigt Zähne ohne Augen: Lächelnd, stolz, gequält, ruhiggestellt - wieso fallen mir plötzlich nur noch The Antlers ein, wenn es um Lieder über im Traum ausgefallene Zähne geht? "Smilewound" klingt einerseits kleinteiliger, andererseits größer als vorangegangene Alben: "When Girls Collide" war wohl früher, in den Achtzigern, mal ein Videospiel, "The Colorful Stabwound" ist beinahe Drum'n'Bass und "Candlestick" komplizierter Synthie-Pop, doch in "Slow Down" und "Time To Scream And Shout" sind Múm wieder so lieblich, süß und kurzatmig, dass man ihnen eine leichte Decke aus Fell schenken möchte. Dreingabe: "Whistle" aus dem "Jack And Diane"-Soundtrack - mit Kylie "Eva Grace" Minogue. (6.9) Jan Wigger
Lawrence - "Films & Windows"
(Dial/Rough Trade, seit 13. September)
Was fällt Ihnen zum Thema Reisen ein? Mir, außer dem wunderschönen Girl aus der Trivago-Werbung und unzähligen mit stillosen Urlaubsfotos zugepflasterten Facebook-Seiten natürlich der Satz: "Too old to die young/ And too young to die now." Peter M. Kersten (manche sagen Pete) dürfte dem aufmerksamen "Abgehört"-Leser ein Begriff sein: Seit vielen Jahren begleite ich das einstmalige Wunderkind in all seinen verschiedenen Inkarnationen (Lawrence, Sten, Schallplatten-Mogul bei "Smallville Records", Hauptsachverständiger für Ferntrips etc.). Doch nun erst erscheint sein Urlaub-und-Arbeit-Album "Films & Windows", inspiriert von inner journeys und realen Fernreisen - leider ohne das Trivago-Girl. Es ist der alte, freundliche, minimale Techno, der alte Deep House, in "The Opening Scene" als strahlender Ambient ohne Beats, in "Kurama" einen Berg in Kyoto hinabsteigend, beim Club-Track "In Patagonia" mitten in Patagonien und auf "Har Sinai" in Tel Aviv, herrlich verloren und ohne ein Ziel, das sich auf einer Land- oder Straßenkarte anzeigen ließe. "All the roving and the colors, art, moments and glances you encounter this way has an influence on one's productions that permanently revolve around fictive and actual events, films and views." Ja, "Marlen" und "Lucifer" sind magisch, und wenn Pete demnächst nach Lissabon fliegt, um Alfama zu besuchen, wird er hernach nur noch Fado hören - und ein neues Genre erfinden. (7.3) Jan Wigger