Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

War das herausragende Debüt-Album von Poliça nur eine singuläre Erscheinung oder überzeugt auch der Nachfolger? Lesen Sie hier. Außerdem: Warum Pearl Jam gegen die Vergänglichkeit rocken, die Tindersticks sich selbst feiern dürfen und Lee Ranaldo auch ohne Sonic Youth relevant ist.
Von Andreas Borcholte und Jan Wigger

Poliça - "Shulamith"
(Memphis Industries/Indigo, ab 18. Oktober)

2012 war ein ohnehin schon aufregendes Jahr für Poliça-Sängerin Channy Leaneagh, und dann starb auch noch, krank und vereinsamt, Shulamith Firestone, jene kanadische Feministin und Frauenrechtlerin, die dem zweiten Poliça-Album nun ihren Namen gab. "Sie ist meine Muse und Mentorin aus dem Jenseits", sagt Leaneagh, "ich möchte, dass die Leute über sie Bescheid wissen." Firestones Thesen, zusammengefasst in ihrem Hauptwerk "The Dialectic Of Sex" von 1970, plädierten für eine Post-Gender-Gesellschaft, in der die Frau, auch durch künstliche Empfängnis und Kybernetik, vom Los der Gebärenden und Erziehenden befreit würde. Geschlechtsspezifische Unterschiede würden in dieser Welt keine Rolle mehr spielen - also in etwa das, was GenderforscherInnen auch heute, 40 Jahre später, propagieren.

Nun sind die Songtexte von Channy Leaneagh keine kämpferischen Aufrufe zur Gender-Revolution, ihre Beschäftigung mit diesem Thema richtet sich mehr nach innen, lotet das eigene Frausein und den ewigen Rollenkonflikt zwischen Subjekt und Objekt aus. Welche freudianischen Gemetzel das beinhaltet, ist im visuell expliziten Videoclip zur neuen Single "Tiff" zu besichtigen, in dem Leaneagh sich aufs Brutalste selbst foltert. Die Lieblichkeit ihrer noch immer mit Autotune und Hall verfremdeten Stimme kann, wie schon auf dem grandiosen Poliça-Debüt "Give You The Ghost", darüber hinwegtäuschen, welche Dämonen in den Songs bewältigt oder in Schach gehalten werden. "Chain My Name", "Warrior Lord", "So Very Cruel" oder "I Need $" beschäftigen sich mit den großen Fragen der Individualgesellschaft: Bin ich fähig, jemanden zu lieben? Liebe ich mich selbst? Ist die Beziehung, von der Ehe ganz zu schweigen, ein Gefängnis? Bin ich wirtschaftlich abhängig? Ist alles nur Zweckgemeinschaft, emotionale Unterdrückung, Unterordnung im Patriarchat? "So leave", ist schließlich, im letzten Song, das resignative Fazit: "I don't like when you/ Tell the boys that I'm your girl/ String me up like a lucky charm with plastic pearls/ Just me and my girls/ So leave me alone is all I know".

Diese selbstgewählte Isolation, eine notwendige, aber zutiefst bedauerte Einsamkeit, durchströmt erneut auch die Musik von Poliça: R&B, Dub, Jazz-Rhythmik und Elektro fügen sich zu einem noch geschlossenerem Sound zusammen, der mit keiner aktuellen Band vergleichbar ist - ein angespanntes, gleichzeitig gelassen wirkendes Pulsieren, getrieben durch zwei Schlagzeuger und den herausragenden Bassisten Chris Bierden, heimgesucht durch Leaneaghs entfremdetes Wehklagen und sphärische Klänge, die auch mal minutenlang das kommerzielle Klingklang einer Spielhölle (in "Vegas") nachahmen oder sich nach dem klaustrophobischen Trip-Funk von Portishead strecken. Eine Weiterentwicklung dieses Sounds auf dem zweiten Album erschien wohl auch der Band unnötig, so souverän und definiert gaben sie sich bereits mit ihrem Debüt.

Was "Shulamith" keinesfalls zu einer Enttäuschung macht. Im Gegenteil: Inhaltlicher Anspruch und musikalische Virtuosität gehen hier eine beeindruckende, packende und extrem berührende Koalition ein. "Shulamith" heißt im Hebräischen übrigens auch "Frieden". Aber davon ist Channy Leaneagh, glaubt man ihren selbstquälerischen Psycho-Hymnen, noch weit entfernt. (8.4) Andreas Borcholte

"Warrior Lord"-Videoclip von Poliça auf tape.tv ansehen 

Pearl Jam - "Lightning Bolt"
(Republic/Universal, seit 11. Oktober)

"I found my place and it's alright", singt Eddie Vedder im stürmischen "Getaway", dem Eröffnungsstück des zehnten Pearl-Jam-Albums. Keine Frage, der Mann ist angekommen, hat inzwischen geheiratet, findet Frieden beim Surfen, führt die zweitbeste Live-Band des Planeten an, ist relevant, wo andere seiner Generation längst in der Sackgasse der Rock'n'Roll-Obskurität feststecken. Pearl Jam sind eine der wenigen noch intakten und vitalen Bands aus dem letzten großen (vor allem: unironischen) Aufbäumen des Rocks Anfang der Neunziger. Allein das garantiert ihnen die unbedingte Folgsamkeit einer globalen Fangemeinde aus 30- bis 50-Jährigen. Klar ist: Dem Rock'n'Roll werden keine neuen Impulse mehr hinzugefügt, das Erreichte wird kompetent verwaltet und, je oller, je doller, lautstark gegen das Sterben verteidigt.

So beginnt auch "Lightning Bolt", wie zuvor schon das hervorragende "Backspacer"-Album, mit einer Dreier-Kanonade, einem lauten Aufstampfen, das demonstrieren soll: Wir sind zwar bald 50, aber wir können noch rocken. "Getaway" ist schnellere Standard-Pearl-Jam-Ware, mit der sich jeder Fan sofort wohlfühlen dürfte; "Mind Your Manners" ist eine muskulöse Punkrock-Übung und "My Father's Son" stößt mit düsterem Text über das genetische Erbe eines Psychopathen, zornigem Vedder-Gesang und wütend pulsierendem Basslauf in Tool-Gefilde vor. Mit "Sirens" folgt die erste Atempause, eine pathossatte Midtempo-Hymne, danach dann das wiederum voranpreschende Titelstück, irgendwo zwischen frühen Springsteen-Epen, Who und Beatles.

"Infallible" und "Pendulum" schließlich leiten die ruhigere und weniger erregte zweite Album-Hälfte ein, also eigentlich alles wie vor vier Jahren, interessant ist jedoch der inhaltliche Sprung vom lebensfrohen "Backspacer"-Optimismus zu einer Ahnung von Endlichkeit, Vergänglichkeit und Vergeblichkeit. "But all things change/ Let this remain", fleht Vedder in "Sirens"; "Infallible" ist die ziemlich ungeschminkte (und fromme) Warnung, dass der Mensch sich nicht wissenschaftlicher Hybris hingeben sollte. Selbst der größten Harmonie, dem an die Gattin gerichteten Liebeslied "Future Days", wird mit "Sleeping By Myself" das düstere Spiegelbild einer gescheiterten Liebe entgegen gehalten.

Durch sämtliche Songs zieht sich Gottesfurcht und Respekt vor Naturgewalten: Blitzschlag, verschlingende Fluten, zerstörerische Stürme sind wiederkehrende Bilder, und mittendrin Vedder, der sich mit größtmöglichem Lärm brüllend, flehend Gehör verschafft: Wenn das jüngste Gericht droht, dann werden eben (im launigen "Let The Records Play") laute Platten aufgelegt: "When the kingdom comes/ He puts the records on (…) There's wisdom in his ways". Jesus, Eddie. (7.0) Andreas Borcholte

"Sirens"-Videoclip von Pearl Jam auf tape.tv ansehen 

Tindersticks - "Across Six Leap Years"
(City Slang/ Universal, seit 11. Oktober)

Immer mal wieder flammte meine einstmals mit "Tindersticks" (1993) entfachte Leidenschaft für eine der traurigsten Bands Großbritanniens wieder auf. Mal nehmen sie mit "Chocolate" einen Song auf, den man ihnen in hundert Jahren nicht mehr zugetraut hätte, mal schickt die Plattenfirma einen von Stuart A. Staples handsignierten, pechschwarzen Gedichtband ("Singing Skies") mit Gemälden und gesammelten Tindersticks-Texten. Doch man kann die Widmung nicht entziffern: Heißt es "Hey, Jan - For you ... "? Oder "Run soon ... "? "Come clean … "? "Stay home … "? Dann hört man nach langer, langer Zeit mal wieder "Marseille Sunshine" und stellt fest, dass es exakt dasselbe Gefühl auslöst wie Angela Schanelecs Kunstfilm "Marseille". Wie kann das sein? Und warum war ich noch nie dort? Auch "Dying Slowly" bleibt Warnung, Freund und ewiger Ratgeber: "I've seen it all and it's all done/ I've been with everyone and no one/ So this dying slowly/ It seemed better than shooting myself." Wie "Leaving Las Vegas" ohne Hure, der letzte, allerletzte Versuch, bevor man ins Meer geht - und Stuart Staples singt wie ein Geheimrat, wie ein todkrankes Pferd, und natürlich kennt er Jean Amérys "Hand an sich legen", hat es schluchzend in billigen Hotels auf der Durchreise gelesen. Warum schreibe ich all das? Nun, die Tindersticks, deren Debüt (siehe oben) vor genau 20 Jahren erschien, feiern Jubiläum und haben in den Abbey Road Studios zehn eigene Stücke neu aufgenommen. Elegant, konzentriert, federnd, geschliffen und sinister. Does it still make you cry? (8.7) Jan Wigger

Lee Ranaldo & The Dust - "Last Night On Earth"
(Matador/Beggars/Indigo, seit 4. Oktober)

Wem das apokalyptische Ahnen und Raunen Eddie Vedders zu sehr auf die Zwölf erscheint, dem bietet das jüngste Album von Lee Ranaldo ähnlich furchtsamen Inhalt bei weniger defensiv muskulöser Musik. Der eine oder andere mag ja immer noch das Ende von Sonic Youth bewimmern und in den Solo-Werken von Ranaldo, Thurston Moore und Kim Gordon nach dem letzten Funken New Yorker Art-Punk suchen. Aber, Leute, mal ehrlich: Move on, it's over. Ranaldo, inzwischen 57, tat sich bereits für sein hervorragendes letztes Album "Between The Time And The Tides" mit Sonic-Youth-Drummer Steve Shelley, Gitarrist Alan Licht und Bassist Tim Lüntzel zusammen, während der Tournee erwuchs daraus die Band The Dust - und eine neue, zwischen Lärm und altersgemäßer Harmonie changierende Stilrichtung, die weniger mit Punk, aber umso mehr mit Psychedelik- und Progrock zu tun hat. Angeblich inspirierten alte Grateful-Dead-Alben die Arbeit an "Last Night On Earth", also etwa "Wake Of The Tide" (1973), denn viele von Ranaldos neuen Songs entstanden, zunächst akustisch, als er mit seiner Freundin in seinem New Yorker Apartment festsaß, während sich draußen die Endzeitstimmung von Hurrikan Sandy entfaltete. "Stay away from the window/ Keep the chill out of your bones", singt er im Titelstück, frierend; "By The Window", einer siebenminütigen Grunge-Moritat mit ausufernder Jam-Session im Mittelteil, kommt die pure Tristesse zum Tragen: "I can't tell you where the days go/ How the whole thing's gonna end". Die Freude am gemeinsamen Spielen und Improvisieren bekommt nicht jedem Stück gleichermaßen gut: "Key/Hole" verfranst sich zwischen fröhlichem Hippie-Gehüpf und Seventies-Gegniedel, das dann etwas unvermittelt in Ranaldo-typische Moll-Tonfolgen mündet. Ähnlich vermurkst (und zu lang, wie die meisten Tracks) ist "Home Chds", umso phantastischer dagegen die an Neil Youngs schönstes Wabern lehnenden, ins Unendliche heulenden Schlussstücke "Ambulancer" und "Blackt Out". Alternde Männer, sonic old, die dem Mucker in sich freien Lauf lassen, den letzten Sturm im weißen Haar, die alten Jeans schon voller Flutwasser. Sympathisch kathartisch. (7.5) Andreas Borcholte

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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