Abgehört Die wichtigste Musik der Woche
Shabazz Palaces - "Lese Majesty"
(SubPop/Cargo, ab 1. August)

HipHop ist der neue Mainstream, zumindest in den USA. Aber auch hierzulande, sieht man sich den Erfolg von weit in den Pop- und Schlagerbereich ausholenden Künstlern wie Kollegah und Cro an, gibt es nur noch ein Genre, auf das sich ein Massengeschmack fokussieren ließe. In den USA, wo diese Entwicklung schon seit den Neunzigerjahren fortschreitet und inzwischen einen Übersättigungsgrad erreicht hat, regt sich Widerstand im intellektuellen Lager.
Der Rapper Ahmir Khalid Thompson, besser bekannt als Questlove und Kopf von The Roots, veröffentlichte kürzlich eine Reihe interessanter Essays , die allesamt der Frage nachgingen, was das denn eigentlich für die schwarze Kultur bedeute, wenn die einstige Sub- und Distinktionskultur HipHop nicht nur die afroamerikanische Musik per se dominiert, sondern mit ihren Zeichen und Beats noch dazu auch den kommerziellen weißen Markt und Pop-Zeitgeist bestimmt. Questloves Fazit pessimistisch zu nennen, wäre untertrieben: Die Angst vor Identitätsverlust ist ausgerechnet jetzt, da HipHop-Künstler wie Jay-Z, Drake oder, mit Abstrichen, Kanye West, zu den Königen des Musikmarkts zählen, am größten. Folglich war das jüngste Roots-Album (hier rezensiert), ein mutwillig verkompliziertes, kunstvoll verschachteltes Aufbegehren gegen die Formelhaftigkeit aktueller Erfolgsproduktionen, ein virtuoses Erinnern an den Fakt, dass HipHop und Rap einmal mehr waren als rhetorische Stanzen und hohle Protzgesten. Auch die auf Jazz konzentrierte Brainfeeder-Posse um Flying Lotus und Thundercat aus Kalifornien gehört zu den kritischen Erneuerern aus dem Untergrund.
Shabazz Palaces, ein Duo aus Seattle, das aus dem Rapper Ishmael Butler, einst "Butterfly" bei den Digable Planets, und dem Produzenten Tendai "Baba" Maraire besteht, gehört ebenfalls zu den wenigen Acts, die sich nicht damit begnügen, auf den Wiedererkennungswert ihrer Beats und Posen zu setzen, sondern ihr Genre weiter ins Experimentelle pushen, konkret ins Weltall, denn "Lese Majesty", eine Abwandlung des französischen Ausdrucks Lèse-majesté, also "Majestätsbeleidigung", spielt in einer Space-Welt voller Alien-Gestalten und sphärischer Science-Fiction-Geräusche. Man muss sich die beiden Palaststürmer als Rebellen im Todesstern vorstellen, denn die Metaphorik ist subtil, aber unzweideutig: Die letzte Stunde der Thronbesetzer um Jay-Z hat geschlagen, es ist Götterdämmerung, "Dawn in Luxor", wie der Album-Opener heißt, und die Götzenbilder, das BlingBling, die Maybachs und Picassos, haben ihren reizvollen Glanz verloren: "Sanity, a visage of my wealth/ Lost but always found before the idols that I've knelt" ("They Come In Gold"). Mit dem Niederknien vor dem Imperium ist es vorbei, das ganze "Money, Money, Money", wie es an einer Stelle monoton vor sich hinloopt, verursacht Schwindel ("Motion Sickness").
Aber was haben Shabazz Palaces dem Diktat des Mammons entgegenzusetzen außer fantasievollem Eskapismus und ihrer vermutlich ebenso drogeninduzierten, schleppend-bedröhnten Lakonie? Zunächst ein, gemessen am Vorgänger-Album "Black Up", konsequenteres Klangkonzept aus traditionsbewussten Dope-Beats, auf deren Fundament eben nicht der Rückzug in alte Old-School-Tugenden vollzogen wird, sondern Tendais durchaus avantgardistisches Spektakel aus elektronischen Ambient-Flächen und Sounds abgefeuert wird - alles eingefangen und geerdet von Ishmaels bedächtigen Raps, die Selbstironie ("Solemn Swears") ebenso beinhalten wie ätzende Parodien auf den Twitter-/Insta-/Facebook-Hype ("#CAKE") und den harten Dis gegen die Nichtskönner-Konkurrenz ("…down 155th In The MCM Snorkel"). Einen radiotauglichen Hit muss in diesen teils fragmentarisch und pseudo-improvisiert wirkenden 18 Stücken in sieben Suiten niemand erwarten, aber einen unverschämten, wohltuend coolen Ausblick in die vielleicht doch nicht ganz so düstere Zukunft eines ehemals kreativen Genres. (8.2) Andreas Borcholte
The Raveonettes - "Pe'ahi"
(Beat Dies Records/Alive, seit 25. Juli)

"Tja, das Schäfchen ist nicht mehr da. Und der Löwe hat gesiegt. Wie so oft im Leben." Trotz schlechter Einschaltquoten könnten die gestanzten Weisheiten aus "Bachelorette" in den nächsten Wochen wie der Dalai Lama für die seelische Gesundung Hunderttausender "Menschenkinder" (Xavier Naidoo) sorgen: Anja Plaschg würde auf Konzerten generell mit der ersten Reihe abklatschen ("Seid ihr gut drauf, Hamburg?"), Andrea Berg ihren Edelfan "Fredi" aus Esslingen ("Der Fredi ist ein ganz Lieber!") heiraten, Mansuns "Six" würde nachträglich und offiziell als Meisterwerk anerkannt und Amazon-Kundenbewertungen ("Diese CD ist ein Geschenk, ich kann daher nichts dazu sagen. Tschüss. Armin.") nach dem Talk-shit-get-shot-Prinzip verboten werden. Bleiben dürften die Raveonettes, jetzt wieder mit Verzerrer und der neuen, "geheimen" Platte "Pe'ahi": Die Fans unterrichtete man erst einen Tag vor Veröffentlichung via Facebook, Journalisten und Umfeld schwiegen beharrlich.
Es sind keine Balladen auf der Platte, schade, aber bewusste Entscheidung der Band, die den Ort (Pe'ahi), an dem sich Leben und Tod von Surfern begegnen, auch musikalisch abbilden wollten: "We wanted it to roar like Pe'ahi. This album would only have been possible to make on the West Coast. Sun, surf, the Pacific, vast spaces yet a sense of isolation. No distractions." Das lässige "Summer Ends", ein künftiger Raveonettes-Klassiker, wird lässig und unzeremoniell weggespielt, "Wake Me Up" und "Z-Boys" verschwinden durch eine Ritze in der Wand, und "When Night Is Almost Done" ist dann doch noch der tragische, weltverlorene Moment, dreieinhalb Minuten lang und chopped in half durch Lärm. "I enjoy the pressure", sagt Sune Rose Wagner. Den Druck genießen. Es wäre der Himmel. (7.1) Jan Wigger
Beck - "Song Reader"
(Caroline/Universal, ab 1. August)

Können Sie Musik vom Blatt lesen? Ich gebe freimütig zu: Ich kann es nicht. Mein Musiklehrer hatte in der Schule seine liebe Not, mir Noten lesen beizubringen, ebenso ging es meiner gutmütigen Blockflötenlehrerin Frau Flocken, und später war es keine notwendige Qualifikation, um in die Punkband aufgenommen zu werden, in der ich Ende der Achtzigerjahre spielte. Es reichten drei, vier Akkorde und die Wahrheit. Als Beck Hansen Ende 2012 statt eines neuen Albums ein Büchlein mit Sheet Music, also notierten Songs herausbrachte, war das also eine interessante, aber auch ziemlich eklektizistische Sache. Einerseits befand sich der Musiker in einer kreativen Blockade und wollte sein Talent als Songschreiber um eine, wie er damals sagte, universellere klassischere Dimension erweitern, was nichts anderes bedeutete, dass er sich gerne in die Nähe der großen Meister des American Songbooks, also Porter, Gershwin, Irving Berlin, rücken wollte. Gleichzeitig war der "Song Reader" eine Aufforderung, sich über die Essenz eines "Songs" in Zeiten rapide multiplizierter Coverversionen auf YouTube Gedanken zu machen. Jeder konnte sich diese Songs nehmen und interpretieren - ein großes, pseudo-demokratisches, in Wahrheit natürlich elitäres Experiment, das freilich nur jenen offenstand, die des Notenlesens mächtig sind, also wahrscheinlich die Minderheit des YouTube-Pöbels.
Entsprechend gediegen, man könnte auch sagen: überraschungsarm, klingt nun vieles auf dem offiziellen "Song Reader"-Sampler, der eigentlich nie erscheinen sollte, schon gar nicht mit einem Allstar-Cast wie diesem. Charmanter wäre eine Zusammenstellung der besten oder interessantesten Amateur-Interpretationen gewesen, wie diese Version von "Old Shanghai" von einer musikalisch begabten Auswahl "New Yorker"-Kollegen. Aber damit ließe sich wahrscheinlich wenig Geld verdienen.
Stattdessen also etablierte Künstler wie Norah Jones, Jack White, Marc Ribot und Laura Marling und Newcomer wie Moses Sumney, Fun. oder Gabriel Kahane. Jeder, auch Jeff Tweedy oder der kolumbianische Superstar Juanes, spielt seinen Beck-Song nach seiner Facon, das ist Sinn der Sache, interessant dabei ist, wie die einzelnen Kompositionen dabei als Beck-Songs erkennbar bleiben. Einige Aneignungen funktionieren ganz wunderbar, zum Beispiel Jarvis Cockers angemessen exaltierte Version von "Eyes That Say I Love You", David Johansons Tom-Waits-Crossover "Rough On Rats", das überblasene "Why Did You Make Me Care" von den genialischen Sparks oder Ribots dekonstruierende Jazz-Improvisation von "The Last Polka". Anderes bleibt umso blasser, wenn man es mit Becks eigenem Beitrag auf dem Sampler, "Heaven's Ladder", vergleicht, einem mittelguten Song, der auf Becks hervorragendem jüngsten Album "Morning Phase" kaum mehr als ein Füller gewesen wäre. Was für ein kluger Schachzug! Denn am Ende dieses selbstverliebten Experiments steht die banale Erkenntnis: Ein Beck-Song wird eben nur dann zu einem Beck-Song, wenn Beck ihn performt. The Ego has landed. (5.0) Andreas Borcholte.
Joyce Manor - "Never Hungover Again"
(Epitaph/Indigo, seit 18. Juli)

Diese Platte erinnert mich an 1999, und vielleicht soll sie das auch. In einer Zeit vor My Chemical Romance hatten sich einer oder zwei von uns sogar die Fingernägel schwarz lackiert. Unsere Nacht war die Nacht von Donnerstag auf Freitag, das alte "Kir" in Hamburg. Später wurde es abgerissen, das machte uns betroffen, denn wir saßen gern bei der Tankstelle auf dem Bordstein und schauten auf das alte Gemäuer, in dem Karate, Pedro The Lion, Reiziger, At The Drive-In, The Lapse, The Make-Up, Fugazi, The Get Up Kids und Songs von Jimmy Eat Worlds "Clarity" (das die Band in jenem Jahr herausbrachte) aufgelegt wurden.
Noch kürzer als diese Zeit uns nun im Rückspiegel erscheint ist Joyce Manors Emo Diary "Never Hungover Again": Diese sehr amerikanische Band haut zehn Songs in 19 Minuten raus, und die Spielzeit ihrer alten LPs war wohl ähnlich knapp bemessen. "Christmas Card" ist der Superhit (think: "Pinkerton", "Something To Write Home About" oder doppelt so schnelle Buffalo Tom), Indie-Rock und Pop-Punk, abseits von Clownerien oder erfundenen Leiden, hinter denen sich am Ende doch nur ein weißes "That's Awesome!"-Shirt verbirgt.
Auf "Never Hungover Again" aber geht es um die kaputte Familie, um emotionale Erkältungen, das Mädchen, die Schule und den richtungslosen, brennenden Zwang, sich auszudrücken: "I want a heart tattoo/ I want it to hurt really bad/ That's how I'll know/ I'll know it's real." Doch wenn die Blicke immer starrer werden und beinahe einfrieren, läuft "Heated Swimming Pool" bitter und porös: "I wish you would have died in high school/ So you could be somebody's idol/ But you were clever/ Always forever in command/ It's my house my rules my heated swimming pool." Habt ihr schon Tickets für Mineral? (7.2) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)