Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Sozial-Rapper Plan B liefert Beats für die britische Mittelschicht. Bill Fay bekommt nach 40 Jahren die Aufmerksamkeit, die er verdient. Stealing Sheep machen Freak Folk mit Kraut und Samt. Und Get Well Soon geht's gar nicht besser.
Von Andreas Borcholte und Jan Wigger

Plan B - "Ill Manors"
(Atlantic/Warner, bereits erschienen)

Ben Drew musste als Schulkind immer die alten Sneaker seiner älteren Schwester auftragen. Die waren auch mal pink oder lila, Mädchenschuhe halt. Selbst als jemand, der seine ebenso verzweifelten wie vergeblichen Versuche, die billigen Aldi-Turnschuhe seiner Kindheit wie teure Nikes aussehen zu lassen, um auf dem Schulhof nicht gehänselt zu werden, noch gut in Erinnerung hat, kann ich die Demütigungen und Qualen nur erahnen, die Drew im sozial problematischen Londoner Bezirk Forest Gate erleiden musste, wo Statussymbole vermutlich noch etwas wichtiger waren als im verschnarchten Hamburger Umland. Drew hat gelitten und erduldet, er kennt die verbissenen Kämpfe um Identität und Zukunft der prekarisierten Jugend aus dem Londoner Osten also gut. Er selbst hat es allerdings geschafft, der aggressionsfördernden Perspektivlosigkeit zu entfliehen.

Sein Debütalbum als Rapper war ein mittelmäßiger Erfolg, doch seine Soulpop-Platte "The Defamation Of Strickland Banks" wurde 2010 zu einem der erfolgreichsten Alben Großbritanniens und gewann diverse Preise. Seine Popularität und das Geld, dass er durch mehr als 1,4 Millionen verkaufte Platten allein in England verdient hat, nutzte Drew, um den rauen Ghetto-Dokumentarfilm "Ill Manors" und das gleichnamige Rap-Album zu produzieren. Den Titelsong, mit einem für deutsche Ohren vertrauten Peter-Fox-Sample ausgestattet, nahm Drew nach den London Riots im vergangenen Sommer auf, als Film und Soundtrack bereits fertig waren.

Wer bisher nur süßliche Chart-Hits wie "She Said" von Plan B kannte, wird ob der sprachlichen Härte, der Körpersäfte, derben Flüche und des zynischen Straßenslangs, den Drew hier in seinem conscious rap zu einer wütenden Sozialanklage vermengt, wahrscheinlich zusammenzucken. Aber genau das ist es wohl, was Drew beabsichtigt: sein Mittelklassepublikum auf die Missstände in "David Cameron's broken Britain", wie es in einem Song heißt, hinzuweisen. Deshalb gibt es auch keine aktuellen musikalischen Strömungen wie Grime oder Dubstep auf dem Album, mit dem sich das Problembezirkklientel identifizieren könnte, sondern Klassik-Samples von Camille Saint-Saëns, eine veritable Powerballade ("Deepest Shame") und Old-School-Beats, mit denen sich gutsituierte Enddreißiger an die wilde, engagierte Zeit erinnern können, als sie noch Public Enemy und Wu-Tang Clan gehört haben. Songs wie "Drug Dealer", "Playing With Fire" oder das funkriffgetriebene "The Runaway" transportieren Drews Botschaft mit unwiderstehlichen Grooves und Mainstream-Appeal. Ist das nun schlecht oder verwerflich im Sinne seiner HipHop-Credibility? Nein, es ist klassenübergreifender Pop eines selbstbewussten, hochtalentierten Künstlers, der sich seine Fähigkeiten außerhalb des Establishments erarbeitet hat. Und dabei war Rapper zu werden eigentlich nur Ben Drews Plan B. (8.1) Andreas Borcholte

Bill Fay - "Life Is People"
(Dead Oceans/Cargo, 24. August)

"I'm a street sweeper/ In your city of dreams/ Sweeping up the papercups/ Between the limousines", allein dieses Bild hing mir tagelang nach. Ein Mann, der in der Stadt meiner Träume die Straßen fegt… wie sieht überhaupt die Stadt meiner Träume aus? Will ich überhaupt, dass da jemand fegt? Bill Fay hat die seltene Fähigkeit, solche, letztlich natürlich tiefchristliche Metaphern in die Köpfe seiner Zuhörer zu verpflanzen. Er braucht dafür nicht viel: Ein fieberndes Keyboard, ein geisterndes Piano, ein paar sehnende, epische Streicher und eine Stimme, die bedächtig, fast zurückhaltend, aber doch unendlich intensiv von demütigen Seelen erzählt, die sich ihren Platz im Himmel verdienen wollen: "Thank you Lord, for the sky above me". Dass "Life Is People" jetzt erscheint und so viel Aufmerksamkeit seitens der Pop-Kritik erhält, grenzt ebenfalls an ein Wunder. Denn Fay, in Nord-London geboren, wo er immer noch lebt, ist ein großer Vergessener der Musik.

1970 und 71 erschienen zwei heute als Meisterwerke gefeierte Alben, dann verlor Fay seinen Vertrag und verschwand bis zu einer Reihe von Re-Issues und einem Album von 2005 in der Obskurität. Allerdings nicht ohne eine treue Fangemeinde, zu denen, Glück für Fay, einflussreiche Leute wie Julian Cope, Nick Cave, David Tibet (Current 93) und Wilcos Jeff Tweedy gehören. Letzterer lässt sich zitieren mit den Worten: "Ich kann mich an keinen Musiker erinnern, dessen Alben mir jemals mehr bedeutet hätten". Und tatsächlich: Hört man die elaborierten, sich weit öffnenden Kompositionen Fays, die er in den letzten Jahren allein und im stillen Kämmerlein erschaffen hat, allen voran das sich in jubilierende Höhen schraubende "Cosmic Concerto", dann weiß man, woher Tweedy viel Inspiration für seine oft elegischen, trotzdem immer bescheidenen Lieder über das Leben, den Sinn und die Leidenschaft bekommen hat. Nennen wir das mal unaufdringliche Opulenz. "Life Is People" ist ein meisterlich abgeklärtes Alterswerk, voller philosophischer Fragen, wohlformulierter Kritik am hektischen Lebensstil unserer Zeit und frommer Wünsche an eine möglichst harmonische Lebensabendreise zur "Coast No Man Can Tell". Vielleicht hätte Nick Drake so geklungen, hätte er länger gelebt. Aber vielleicht kann man sich bei Bill Fay, dem endlich Auferstandenen, auch mal alle Vergleiche sparen. (7.7) Andreas Borcholte

Get Well Soon - "The Scarlet Beast O'Seven Heads"
(City Slang/Universal, 24. August)

Ja, okay, dachte ich mir am Samstag: Wenn ich Gothic-Rock zum Lachen will, dann kann ich mir auch Staubkind reinziehen oder im Oktober zu Lacrimosa gehen (Sopor Aeternus spielt ja nie). Was aber, wenn ich mir einfach nur ein großes, portugiesisches Kutscherhaus mieten will, um dort ausschließlich auf die neue Tokio Hotel zu warten und die Worte "All of them witches" vor mich hin zu murmeln, während ganz Deutschland Eis isst und brabbelt und ganz brünftig wird? Schlagzeile des Jahres: "Knacken wir heute die 40 Grad? 'Bild' drückt die Daumen!". Konstantin Gropper, den ich seit einem gemeinsamen Spaziergang in Hamburg als einen der bescheidensten und angenehmsten Gesprächspartner überhaupt in Erinnerung habe, zog nicht gleich nach Akureyri, sondern bloß zurück nach Mannheim, was aber auch langt, wenn man nur endlich weg ist aus Berlin. "The Scarlet Beast O'Seven Heads" ist eine höchst ambitionierte und höchst seltsame Platte, mit Engelschören, Luchino-Visconti-Feel, im Dunkeln sichtbarem Atem ("You Cannot Cast Out The Demons, You Might As Well Dance"), Gelflingstränen ("The Last Days of Rome") und einer gefährlich zittrigen Nachricht an Roland Emmerich ("Roland, I Feel You"). Eine weitere stockfinstere Get-Well-Soon-Platte voller Hoffnung, Wärme, mutwilliger Verwirrungen und Alleen, die aufs Meer weisen. Seriously: Wer mich in zwangsaffirmativer Sorge-dich-nicht-lebe-Manier zwingen will, dieses scharlachrote Elend zum "Soundtrack für den Sommer" hochzuschreiben, der hat sie nicht mehr alle. (7.3) Jan Wigger

Stealing Sheep - "Into The Diamond Sun"
(Heavenly/Cooperative Music, bereits erschienen)

Da mühen sich Rachel und Becky Unthank jahrelang ab, und dann das: Stealing Sheep, drei junge Damen aus Liverpool, spielen erst seit Mitte 2010 zusammen und werden von der britischen Pop-Presse bereits nach einigen Singles und dem nun auch bei uns erhältlichen Debütalbum als "unstoppable" (BBC) bezeichnet. Drei Mädels, die viel Vashti Bunyan und den Soundtrack zu "The Wicker Man" gehört haben - so what? Ist aber nicht so einfach, denn Becky Hawley, Emily Lansley and Lucy Mercer sind nicht einfach eine weitere Band, die auf dem Heuwagen der Freak-Folk-Bewegung mitfahren wollen, in ihrer Musik steckt mehr Wille zum Pop als bei ihren in den letzten Jahren szeneprominent gewordenen Vorgängerinnen, allerdings betreiben sie auch nicht den totalen Ausverkauf wie die Pierces zum Beispiel. Am schönsten zeigt sich ihre Kunst, unterschiedlichste Einflüsse zu einem sinnigen, stimmigen Popsong zu verknüpfen, in "Rearrange", wo keltischer Dorftanz auf herzhaften Britpop-Refrain trifft, oder in dem auf Handclaps und Paukenschlägen balancierenden "Shut Eye". "White Lies" schüttet den Geist von Velvet Underground über einem Spielmannszug-Marsch aus, und durch "Gold" hindurch wirken sphärische Krautrock-Keyboards und Sitarklänge. "Sharks are big and sharks are scary/ Sharks make me feel extremely weary/ But I don't care" säuseln Stealing Sheep im dreistimmigen Harmoniegesang in ihrem lustigen "Shark Song", wer würde mit diesen furchtlosen Girls nicht, Pardon, Schafe stehlen gehen? In "Liven Up" hört man sogar ein bisschen Bangles-Sound heraus. Die haben es einst auch geschafft, würdevoll in die Charts zu kommen. Wir warten mal ab, was passiert. (7.1) Andreas Borcholte


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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