Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Ein Witz zum Abschied? Oder ein Neubeginn? Lesen Sie hier, wie das neue Album der Strokes wirklich ist. Außerdem: Warum DJ Koze ein rosarotes "Dark Side Of The Moon" geschaffen hat, Billy Bragg zwei linke Hände hat und was Low mit "DSDS" zu tun haben.

Liebe Abgehört-Gemeinde,

Kollege Jan Wigger nimmt sich eine verdiente Auszeit. Seine Absenz überbrücken wir mit Gastbeiträgen bekannter Größen der Popkritik. Diese Woche: Arno Frank, Autor für "Die Zeit", "taz", "Musikexpress" und SPIEGEL ONLINE.

The Strokes - "Comedown Machine"
(RCA/Sony, seit 22. März)

Neulich Radio gehört und gedacht: Das ist aber mal ein cleverer Remix des alten A-ha-Gassenhauers "Take On Me". War natürlich keiner, sondern die neue Single von den Strokes, "One Way Trigger". Die Band mit der wohl schwersten Hypothekenlast der jüngeren Rockgeschichte ist zurück, und zeigt allen, die immer und immer wieder eine Rock-Revolution erwarten, den Finger. Sehr sympathisch. Für "Comedown Machine" haben sich sogar alle Mann im Studio (Electric Ladyland, also Home-Turf) versammelt. Böswillig könnte man sagen: Etwas Heißeres als ihre alte Band ist auch gerade für keinen der Fünf in Sicht. Kollege Wigger, der mich wegen der Strokes-Platte extra aus dem Sabbatical anrief, meinte weise, wie er nun mal ist: "Wahrscheinlich ist das die letzte Strokes-Platte".

Vielleicht ist es aber auch der Startpunkt einer experimentellen Phase, nachdem sich beim vergurkten letzten Album "Angles" große Ratlosigkeit breit gemacht hatte. Das geschmacklos bunte Grafik-Cover von "Angles" hätte eigentlich besser zu "Comedown Machine" gepasst als der schicke Demoband-Look, aber man wollte wohl unterstreichen, dass hier ein bisschen lustig herumgedödelt wird. Schade nur, dass die Achtziger-Pop-Einflüsse von "One Way Trigger" sich nicht durch das ganze Album ziehen. Die Unentschiedenheit, die einerseits charmant verspielt und offen nach allen Seiten wirkt, verhindert andererseits auch, dass "Comedown Machine" im Kanon der Strokes irgendwann einmal ein großes Album genannt werden wird. Allenfalls wird man es vielleicht als letztes Aufbäumen werten müssen, als Pendant zu "Some Girls", mit dem die Stones 1978 nach dem einfallslosen "Black And Blue" kurz und brillant auf den Disco-Zug aufsprangen. Nur folgten danach eben leider "Emotional Rescue" und "Tattoo You", bevor es endgültig bergab ging.

Aber genug geunkt: Vieles auf "Comedown Machine" ist gelungen, darunter der Opener "Tap out", der New-Order-Wavepop mit Yacht-Rock-Feeling verquickt, oder das über einem LCD-Soundsystem-Discobeat schunkelnde "Welcome To Japan", in dem sich Sänger Julian Casablancas am Falsett versucht und sich über die eigenen Star-Attribute amüsiert: "What kind of asshole drives a Lotus?" - "Miss You" im Strokes-Style, wenn man bei den Stones-Analogien bleibt. "80's Comedown Machine", auf geloopte Synthie-Streicher und dürre Achtziger-Konservendrums gebettet, ist so etwas wie eine Ballade im Radiohead-Stil. Und "Happy Ending", kurz vor Schluss, schiebt die New Yorker Spätpunks mit Gitarrenloop, euphorischem Gesang und schmucker Orgel noch mal auf den Dancefloor. Dazwischen finden sich mehr oder weniger inspirierte Strokes-Standards wie "All The Time", "50 50", "Partners In Crime" oder "Slow Animals", die im Radiofutter jeder beliebigen Indie-Station nicht weiter herausstechen würden. Hälfte gut und interessant, Hälfte mau bis belanglos, das ist kein schlechter Schnitt für das fünfte Album einer Band, von der man keine Überraschungen, geschweige denn Metamorphosen mehr erwartet hatte. Unvermeidliche Schlusspointe: Is this it? Vermutlich noch lange nicht. Von irgendwas müssen die Jungs ja leben. (6.9) Andreas Borcholte

"All the Time"-Clip von The Strokes auf tape.tv ansehen 

DJ Koze - "Amygdala"
(Pampa/Rough Trade, seit 22. März)

Im Anfang pulsiert da nur dieser mächtige, wie beschwipst auf Erlösung zutorkelnde Bass, gestützt von einer Kickdrum und synkopierten Claps. Wenn dann, nach einer Ewigkeit von anderthalb Minuten, endlich diese hypnotische Funk-Skizze ins Spiel kommt, ist es, als würde einem ein guter Freund vorgestellt - und der Track schiebt los wie ein alter Maserati mit Biturbo. Dabei ist das kantig-trockene "Marilyn Whirlwind" nur die einsame und sturmumtoste Spitze - nein, nicht des Eisbergs - sondern einer ganzen, verdammten, subtropischen Gebirgskette, die in dampfende Wolken gehüllt und von Dschungeln bedeckt ist, in denen alles zwitschert, zirpt und zerrt. Ein Album wie eine wimmelnde Wildnis, in der man für 78 Minuten oder auch 78 Tage verloren gehen und doch üppig von exotischen Früchten, klarem Wasser oder dem schweren Duft der berauschenden Blüten leben könnte - ganz zu schweigen von den spitzkegeligen Kahlköpfen, die hier überall wachsen und immer so gute Laune machen. Früher bezeichnete Stefan Kozalla seine Musik vollmundig als "okay". Sein erstes Album als DJ Koze nach acht Jahren nennt er mit entmachtender Bescheidenheit schlicht ein "Meisterwerk". Genau das ist "Amygdala", das Werk eines Meisters.

Tatsächlich hat Kozalla einen denkbar weiten Weg genommen. Er war HipHop-Beatmeister von Fishmob, veröffentlichte als Adolf Noise die phänomenal verschrobene Hörspiel- und Sample-Orgie "Wunden, s. Beine offen" und war wie nebenbei jahrelang "DJ des Jahres" für Zeitschriften wie "Spex", "De:Bug" oder "Intro". Nebenbei reüssierte er mit dem Trio International Pony auch in England und Amerika. Dort nennt man ihn in einem Atemzug mit Aphex Twin und bezeichnet ihn respektvoll als "oddball producer", vor allem wegen seines experimentellen Techno-Sounds und den Remixen, die er unter erzdoofen Pseudonymen wie Kosi Anan, Monaco Schranze ("The Geklöppel Continues") oder Swahimi, der Unerleuchtete produzierte. Das Hütchenspiel mit den Identitäten ließ den Mann immer wieder verschwinden, kaum dass man ihn für sich entdeckt hatte. Auf "Amygdala" ist nun alles versammelt, alle Teile seines Werkes, rolled into one. Allein die Namen der Kollaborateure lesen sich wie die Playlist für eine verheißungsvolle Clubnacht: Es singen und sprechen der verrückte Dan Snaith von Caribou ("Track ID Anyone?"), ein verzerrter Matthew Dear ("Magical Boy"), der elegische Apparat ("Nices Wölkchen"), der noch viel elegischere Dirk von Lowtzow ("Das Wort") im Duett mit Marvin Gaye und, ebenfalls mit besten Grüßen aus der Unsterblichkeit, Hildegard Knef ("Ich schreib' dir ein Buch"). Dazu noch zwei Leute, die Kozalla angeblich beim Trampen aufgegabelt haben will. Allen Songs, denn es sind echte Chansons, hat DJ Koze ein digitales Gewand programmiert, das mal in opulenten Falten fällt, mal blutabschnürend eng anliegt - so minimal, dass es schon mnml ist. Stimmen werden ins Lächerliche hochgepitcht, ins Gespenstische verlangsamt. Manchmal, wie bei der Knef, fügt Kozalla nur ein kaum wahrnehmbares, aber zu Herzen gehendes Zittern hinzu. Es gibt neben zufrieden schmatzenden Beats und windschiefer Percussion aus dem Rechner auch Gamelan-Klänge und Maultrommel-Soli, soulige Bläsersätze, Spoken-Word-Sequenzen, rätselhafte Field Recordings aus dem echten Leben. Und immer wieder Augenblicke, da alles Elektronische sich ins Psychedelische verflüssigt und ins Ozeanische mündet.

Hätte DJ Koze es bei der badewannenwasserwarmen Melancholie belassen, würde sich trotz aller tränenziehenden Schönheit irgendwann Langeweile eingestellt haben. Es ist sein bizarrer Witz, der "Amygdala" immer wieder über die Schwelle zum Genialischen trägt - er allein hält diese Musik im Innersten zusammen - und beim Hörer eine Erregung aufrecht, die süchtig und glücklich machen kann. Hier webt und wirkt allerorten ein Humor, der nicht mit "feiner Ironie", "Wortwitz" oder dem berüchtigten "Augenzwinkern" verwechselt werden darf. Die Komik ist komplett in den Klang transzendiert, die Beats selbst sind komisch und damit menschlich. Man höre und bestaune nur, wie bei "Marilyn Whirlwind" der gebieterisch wuchtbrummende Bass plötzlich einzunicken scheint und immer langsamer wird wie ein sich drehendes Rad, bei dem plötzlich die einzelnen Speichen sichtbar werden, und wie er sich dann besinnt, beschleunigt und wie wild geworden durch den Track irrlichtert, als wolle er seinen narkoleptischen Anfall gut machen. Das kann nur DJ Koze, das macht ihm in diesem Leben keiner mehr nach. "Amygdala" ist, um sich da mal aus dem Fenster zu lehnen, das rosarote "Dark Side Of The Moon" der elektronischen Musik. Auf Lachgas. (9.2) Arno Frank

Billy Bragg - "Tooth & Nail"
(Cooking Vinyl/Indigo, seit 22. März)

Was wäre, wenn die Märkte zusammenbrechen, die Zahlen sich nicht mehr zu einer Rettung addieren lassen? Wenn das Higgs Boson ebenso eine Schimäre ist wie der Heilige Gral? "But what if there's nothing?/ No big answers to find?/ What if we're just passing through time?", fragt Billy Bragg lässig-lakonisch in seinem Country-Song "No One Knows Nothing Anymore". Das Lied ist einer der Höhepunkte auf Braggs sehr rührenden neuen Platte, der ersten seit 2008, die er in nur fünf Tagen in Los Angeles mit seinem Kumpel Joe Henry aufgenommen hat. Besorgt über den Zustand der Welt ist Britanniens bekanntester Protestsänger und Pop-Sozialist noch immer, aber "Tooth & Nail" zeigt den 55-Jährigen von einer fast versöhnlichen Seite, eine Entspanntheit, die man am ehesten mit den "Mermaid Avenue"-Alben vergleichen kann, die Bragg in den vergangenen Jahren mit Wilco einspielte. Natürlich ist auch sein All-time-Idol Woody Guthrie hier wieder zugegen, in einer Coverversion von "I Ain't Got No Home", wo es heißt: "This world is such a great and funny place/ Where the gambling man is rich while the working man is poor". So bissig wird's noch ein paarmal, etwa in "There Will Be A Reckoning", wo Bragg allen "peddlers of hate" das Jüngste Gericht ankündigt. Zumeist aber schlägt der Politbarde persönlichere Töne an. Zahlreiche Songs, darunter der von seinen zwei linken Heimwerker-Händen handelnde "Handyman Blues" oder das perlende "Your Name On My Tongue", sind Liebeserklärungen an Braggs Ehefrau Juliet oder traurige Herzschmerz-Balladen wie "Swallow My Pride", "Over You" und "Goodbye, Goodbye", vorgetragen in Live-Atmosphäre mit Piano, Standbass und Pedal-Steel-Gitarre, als stünde Bragg mit Wanderklampfe und Karo-Hemd im einzigen Irish Pub von Nashville. "This Is how it ends", proklamiert Bragg im Opener "January Song", um später doch noch Hoffnung aufkommen zu lassen: "Tomorrow's Going To Be A Better Day". Welt geändert? Nö. Neues England? Nope. Girl gefunden? Yep! Abgeklärt, aber nicht resigniert. (7.3) Andreas Borcholte

"No One Knows Nothing Anymore"-Clip von Billy Bragg auf tape.tv ansehen 

Low - "The Invisible Way"
(Sub Pop/Cargo, seit 22. März)

"If I could just make it stop", das denke ich auch immer, wenn ich sehe, wie diese Nulltalente, süchtig nach Ruhm und Aufmerksamkeit, bei "Deutschland sucht den Superstar" auftreten, sich jeden Samstag bunt ausstaffieren lassen, um dann von "Hammerstimme" Bohlen und den Zwillingen Siegfried und Roy Kaulitz für ihr erwartbar erbärmliches Gesangsgut in die Fresse zu kriegen. Der dritte Jury-Kasper, dessen Namen ich mir nicht merken will, hat nie viel zu sagen, stiert aber jedes Mädchen so lüstern an, dass es einem übel wird. Und wenn sie sich dann alle richtig zum Dieter gemacht haben und das Volk per Massensuggestion durch den Plasmabildschirm zum CD-Kauf manipuliert wurde, kriegen sie obendrein auch noch ein paar Echos hinterher geschmissen - wenn Die Toten Hosen noch ein paar übrig lassen. Ja, ich weiß, auf diese Freaks und ihre Zirkus-Formate einzudreschen, ist nicht sonderlich originell, muss aber trotzdem sein.

Das könnte man übrigens auch über die neue Platte von Low sagen, denn die Band aus Duluth, Minnesota, spielt seit nunmehr 20 Jahren ihren extrem verlangsamten Postrock, auch Slowcore genannt: Traurige Lieder über Einsamkeit, Vergeblichkeit und sonstige Melancholien, die von Alan Sparhawk mit getragener, von Mimi Parker mit klagender Stimme vorgetragen werden. "The Invisible Way" wurde von Wilco-Boss Jeff Tweedy im Loft-Studio von Chicago produziert, der dem ohnehin schon über weiten Ebenen verhallenden Sound der Band zusätzliche Durchsichtigkeit verlieh: Das Punk-Kratzen, das noch die schon ähnlich ausgereiften Songs auf "C'mon" (2011) charakterisierte, ist einer klaren, glücklicherweise aber nicht polierten Eleganz gewichen. Gleichzeitig stärkte Americana-Spezi Tweedy das Gospel-Element, das bei Low immer schon vorhanden war, aber stets klein gehalten wurde, zugunsten eines sich ins selige Nirgendwo weitenden Deliriums.

Hier nun, in Songs wie "So Blue", "Waiting" oder "On Your Knees" bekommt das dürre, durstige Sehnen nach Erlösung eine determinierte , beinahe spirituelle Heiligkeit, während Tweedy in Stücken wie "Holy Ghost" oder "Mother" auch traditionelles Country-Songwriting betonte - man stelle sich Crosby, Stills & Nash ohne Zucker vor. "Just Make It Stop", einer der besten Songs des Albums, gehört zu den schnellsten Nummern, die das Trio sich je zugetraut hat - von mangelndem Elan kann also auch nach zwei Dekaden noch keine Rede sein. "You hide so deep/ In the amethyst mine" singt Sparhawk in "Amethyst". Unoriginell hin oder her: Lieber ein versteckter, hell funkelnder Edelstein als eine stumpfe Kartoffel, die mit Make-up und Megawatt zum Strahlen gebracht werden muss. (7.0) Andreas Borcholte

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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