Abgehört - neue Musik High im House-Flur
(Capitol/Universal, ab 28. August)
Woran man merkt, dass man nach sechs Monaten Homeoffice etwas dünnhäutig geworden ist? Zum Beispiel daran, dass man dem armen DHL-Boten, der sich nicht damit begnügt, zu klingeln, sondern auch noch vehement an der Wohnungstür klopft, damit man ihm die Pakete für die Nachbarn (Wo sind die eigentlich? Im Büro etwa?) abnimmt, zunehmend unwirsch mit wirrem Haar und irrem Blick die Tür öffnet (hier bitte GIF von "dull boy" Jack Torrance aus "Shining" dazu denken).
Eine gewisse Entnervtheit zeigt sich inzwischen zumindest bei diesem Kritiker bei der Rezeption von zwangsberuhigten, sogenannten Lockdown-Alben. Zuerst war diese neue Innerlichkeit ja noch ganz schön, aber inzwischen ist’s dann auch mal gut mit der demonstrativen Kontemplation, den einsam am Klavier hockenden Schmerzensmännern (Nimm das, Nick!) und den in Kirchen oder Blockhütten verschanzten Songwriterinnen (Sorry, Taylor!). Das Leben in Corona-Zeiten war lange genug ein langer, monotoner Fluss - und wird aller Voraussicht nach noch etwas länger so bleiben (Hallo Herbstness, my old friend).
Umso mehr freut man sich über KünstlerInnen, die genauso zappelig sind wie man selbst – und das auch mit bewegungsdrängender Musik zum Ausdruck bringen (Danke, Dua Lipa, Jessie Ware, Lady Gaga, Moodymann!). Die vorab veröffentlichte Single "My High" von Disclosure mit den Rappern Slowthai und Aminé war vor ein paar Wochen einer dieser dringend benötigten Energiestöße: Eine kompromisslos hingeknüppelte UK-Garage-Attacke, wie man sie von dem auch in den Charts gefeierten britischen DJ-Duo lange nicht gehört hatte.
Um ehrlich zu sein: seit "When A Fire Starts To Burn" nicht mehr, dem Eröffnungstrack ihres Debüts von 2013. "Please don’t fuck up my high", diese atemlos hingeknurrte Zeile, eine Warnung an jeden Plattenaufleger vom Dancefloor hinauf, es mit dem nächsten Song bloß nicht zu versauen, könnte man den Brüdern Howard und Guy Lawrence im Nachhinein auch noch für ihr allzu saturiertes zweites Album "Caracal" (2015) zurufen. Aber mit dem programmatisch betitelten "Energy" erhöhen die beiden sympathischen Milchgesichter aus Surrey wieder den Puls.
Ein Brett wie "My High" findet sich zwar nur einmal auf dem Album (reicht aber schon jetzt für einen Platz unter den besten Tracks des Jahres), das lässig mit Deep House spielende "Watch Your Step" (mit Sängerin Kelis) setzt jedoch einen angemessen schwungvollen Groove. Channel Tres aus Compton fügt dann im Nightcrawlers-Vibe seiner lustvollen Auslassungen über Lavendel ("Lavender", wtf?) noch ein bisschen Hitzigkeit zu: "No turning back now!". "My High" pusht das Feeling dann on, sozusagen.
Prominente Gäste hatten Disclosure schon immer, diesmal ist jedoch auffällig, dass alle Beteiligten People of Color sind - und der Anteil der aus dem Hip-Hop und Rap stammenden Features extrem hoch ist, entsprechen urban klingt das Album. Dem "Guardian" sagten die Lawrence-Brüder, es sei ihnen als weiße Landeier früher schlicht nicht möglich gewesen, Rapper überhaupt zu einem Rückruf zu bewegen. Mit dem Ruhm kam jedoch auch die Akzeptanz, sodass nun neben Kelis und R&B-Star Kehlani sogar Rap-Legende Common seinen Flow für das elegante Schlussstück "Reverie" zur Verfügung stellte.
Dass Disclosure, die mit ihrem Remix von "Running" einst die britische Soulsängerin Jessie Ware auf den Dancefloor holten, noch immer ein Gespür für den Zeitgeist haben, zeigt das zentrale Stück "Douha (Mali Mali)" mit Fatoumata Diawara. Die - natürlich - aus Mali stammende, mehrfach Grammy-nominierte Sängerin und Schauspielerin war schon 2018 zu Gast auf dem Disclosure-Track "Ultimatum", jetzt verleiht sie den Briten einen authentischen, schwer angesagten Afro-House-Touch, der es locker mit dem Radiohit "Jerusalema" oder Burna Boy's Sommerhymne "Wonderful" aufnehmen kann und ähnliche Instant-Glückseligkeit spendet. Etwas weniger euphorisierend, aber nicht minder eindrücklich ist danach "Ce n’est pas" mit dem französischen Trip-Hop-Gesang des Kameruner Songwriters Blick Bassy.
"Who knew", wer hätte das gedacht, möchte man, aufgekratzt, aber innerlich besänftigt durch den House-Flur tänzelnd, mit US-Rapper Mick Jenkins und seinem Album-Feature ausrufen: dass Disclosure uns noch mal einen Sommer retten. (8.2) Andreas Borcholte
(Jagjaguwar/Cargo, ab 28. August)
Es gibt tausend verschiedene Arten, einen Song zu Ende zu bringen, aber gleich zum Auftakt von "Whole New Mess" demonstriert Angel Olsen die brutalste von allen. Das Titelstück ihres neuen Albums wird immer schwerfälliger im Verlauf seiner vier Minuten, eine E-Gitarre schleppt sich unverzerrt, aber nicht unversehrt durch ihre Tonfolgen, und schließlich kann man hören, wie das Stück unter der Last seines letzten Akkordwechsels zusammenbricht. Mehr wäre nicht mehr gegangen, da ist sich auch Olsen sicher, denn schon vorher hatte sie bekannt: "I made a whole new mess again".
Warum es überhaupt schon wieder ein neues Album von der Songwriterin aus Asheville, North Carolina gibt? Weil Olsens letztjährige Platte "All Mirrors" von Anfang an eine zweigleisige Angelegenheit war. Es gab die filmreife Aufbereitung der 2019er-Version mit Streichern, Synthesizern, federndem Bass und großer Ernsthaftigkeit, aber es gab schon vorher die Skelettversionen der Songs: Stimme, Gitarre, noch größere Ernsthaftigkeit. Olsen nahm diese mit dem Sound-Engineer Michael Harris im US-Bundesstaat Washington auf und hat sie für die Veröffentlichung von "Whole New Mess" um zwei bisher unbekannte Stücke erweitert. Ein Geschenk, aber eins, das gar nicht so einfach auszupacken ist.
"Whole New Mess" macht deutlicher als "All Mirrors", dass die Songs auf beiden Alben von einer gescheiterten Beziehung handeln, von neu sortierten Umständen, Freundeskreisen und Prioritäten. Olsen hat sie geschrieben, als die zugehörigen Prozesse noch nicht abgeschlossen waren, ihr ganzes Leben praktisch in der Luft hing - auch wenn man den eleganten, anmutigen Stücken auf "All Mirrors" kaum etwas von dieser Verunsicherung anmerkte. "Whole New Mess" merkt nun alles: Das Solosetting, die stoische Gitarre und der ausfransende Gesang tragen die Kennzeichen eines klassischen Trennungsalbums vor sich her.
Olsen und Harris haben die Platte in einer Kirche aufgenommen und dem Raum einen Großteil der Arbeit überlassen. Silben und Akkorde stehen sekundenlang in der Luft, Reverb und Rückkopplungen entwickeln unerwartetes Eigenleben. Trotzdem klingt "Whole New Mess" ganz unmittelbar, nach maximal zwei Versuchen pro Song. Und einmal sogar fast vergnügt: "Waving, Smiling" heißt eines der bisher unveröffentlichten Stücke, seine Gitarre hebt im Walzertakt an, und Olsen betrachtet das schöne Wetter durch ein geschlossenes Fenster. "I’m waving, smiling/At love", singt sie, aber natürlich kommt da noch was: "Forever alive and dying". Ein Glück, dass man das Happy End zu diesem Album schon aus dem letzten Jahr kennt. (8.1) Daniel Gerhardt
(Concord/Universal, seit 21. August)
Die aktuelle Jazzszene im Süden Londons hat einen fast mythischen Ruf. Da kommt viel zusammen, was junge Publikumsschichten anspricht, die sich woke nennen: afrodiasporische Kulturen, karibische Musiken wie Reggae, Dub oder Cumbia. Geprägt sind diese Verwandtschaftsverhältnisse vom elektronischen Geist des Hip-Hop sowie von einem mal spirituellen, mal (identitäts-)politischen Bewusstsein für diverse Wurzeln. Riesig scheint die Szene vor Ort nicht zu sein, es fallen meistens die gleichen Namen. Etwa der Saxofonist Shabaka Hutchings mit seiner tollen Band Sons of Kemet. Seit einiger Zeit ebenso laut genannt wird die 1991 geborene Tenoristin Nubya Garcia. Das ist der Hintergrund ihres Debütalbums, der bei ihr im Vordergrund steht, nämlich auf dem Cover: "Source" heißt die Platte, Ursprung, und aus Garcias Haar treiben tatsächlich Wurzeln. Es geht also um Herkunft, Solidarität, Empowerment. Was sonst?
Das ist ganz schön viel Gepäck für ein Debüt. Wer die Londonerin, deren Eltern aus Guyana und Trinidad stammen, schon einmal live gesehen hat, weiß jedoch, dass Garcia viel schultern kann. In der Band des Chicagoer Drummers Makaya McCraven blies sie im Herbst 2018 die Platzhirsche an die Wand. Und mit ihrem eigenen Quartett verriet sie letztes Jahr bei Liveauftritten bereits ihre Qualität als Solistin.
Auf "Source" sind aber zwei unterschiedliche Musikerinnen zu hören. Zum einen präsentiert sich die dem Modernismus verpflichtete Jazzerin, die mächtig abdrückt, befeuert von einem stets durchgeladenen Drummer (Sam Jones). Gleich die erste Nummer, "Pace", sendet dieses Signal. Leider, muss man sagen, auch wenn das Niveau top ist. Denn wir hören auf "Source" auch eine Musikerin, die für ihr junges Alter und ihr altes Können nur wenige Muskeln spielen lassen muss, stattdessen eigene Stimmungen schafft und darin ihren Platz findet.
Das erste Beispiel für diese schöne frühe Reife ist "Stand With Each Other" mit verschiedenen Gastsängerinnen. Hier spielt Kraftmeier Jones auch mal ein leichtes, Dub-verhangenes Schlagzeug, während die Chorfetzen das einfache Thema des Saxofons vorwegnehmen. Es klingt nach reduziertem Lovers Rock, wie Mitte der Siebziger jener in London praktizierte Reggae hieß, der die Liebe beschwor, statt die Welt anzuklagen. Garcia wiederholt das Thema nur wenig - sie verändert fast nur die Dynamik und den Klang, bloß einmal wechselt sie in eine höhere Lage. Dann kommen die Sirenenstimmen wieder näher. So zauberhaft können 3 Minuten und 38 Sekunden sein.
Die zweite Überraschung dauert nicht viel länger und heißt "La Cumbia me está llamando": Gesang, Perkussion, Saxofon nahe beisammen. Das klingt so körperlich wie avantgardistisch und wurde in Kolumbien mit lokalen Musikerinnen aufgenommen. Hier wächst aus dem mitunter modischen Wurzel-Diskurs eine konkrete, berührende Begegnung auf Augenhöhe. (7.0) Tobi Müller
(Smalltown Supersound/375 Media, ab 28. August)
Kelly Lee Owens scheint einen Hang zur musikalischen Hommage an ihre Held*innen zu haben: Auf ihrem 2017 erschienen, selbst betitelten Debütalbum widmete sie dem Avant-Disco-Pionier Arthur Russell mit "Arthur" einen verträumten Ambient-Techno-Track. Im selben Jahr veröffentlichte Owens ein Cover inklusive Remix von Aaliyahs "More Than A Woman" und ließ die ikonische R&B-Hymne über sphärische Acid-Lines blubbern. Mit "Arpeggi" eröffnet sie nun ihr zweites Album "Inner Song" direkt mit einem Radiohead-Zitat, indem sie das sacht gezupfte Gitarrenmotiv von "Weird Fishes/Arpeggi" einmal durch den Sequencer jagt und das synkopierte Drumpattern so prägnant herausarbeitet, dass man sehnsüchtig auf das Amen-Break wartet.