Abgehört - neue Musik Es rauscht so schön
GAS - "Narkopop"
(Kompakt, ab 21. April)
Weiß eigentlich noch jemand, was die Sonatenform ist? Lange ist es nicht her, da hörten die Menschen, die in Konzerte der auch damals schon so genannten "Klassischen Musik" gingen, Noten. Der Musiktheoretiker Theodor W. Adorno etwa lebte noch in dieser Welt. Musik, das war eine Kunst, die aufgeschrieben wurde wie Literatur. Die gelesen und dann gespielt wurde. Diese Zeit ist vorbei. Es ist Teil des Zaubers von GAS, diesem Riesenprojekt des Kölner Techno-Visionärs Wolfgang Voigt, dem, was an die Stelle des alten Hörens getreten ist, eine Klangsprache gegeben zu haben, die an das, was vergangen ist, erinnert - aber trotzdem ganz in der Gegenwart spielt. Denn wie hören wir heute? Nicht mehr nach Partituren. Wir hören Sound, Klangfarben. Darum geht es bei GAS.
GAS ist Voigts Versuch, die Ästhetiken der klassischen Orchestermusik und von Techno zu verbinden. Nicht im Sinne eines Crossovers, der sich hier und dort ein bisschen mitnimmt; Voigt nimmt Schnipsel alter Mahler-, Wagner- und Bruckner-Aufnahmen, spielt sie in seinen Sampler und erschafft aus diesen dunklen Klängen eine neue Musik. Als er Mitte der Neunzigerjahre damit begann - die großen Alben "Zauberberg", "Konigsforst" und "Pop" erschienen zwischen 1997 und 2000 - löste er damit eine erbitterte Diskussion über Musik und die deutsche Identität aus. Um Voigts Bezug auf den deutschen Wald wurde gestritten, die Plattencover zierten verfremdete Bilder aus dem Unterholz. Eine Debatte, die im Nachhinein vor allem von der Schwierigkeit erzählt, die Musik zu verstehen, die Voigt da in den Raum stellte.
Nun erscheint "Narkopop", 17 Jahre nach dem letzten GAS-Album, und es rauscht immer noch so wunderbar wie nichts Anderes in der elektronischen Musik. Zehn neue Stücke, die genau dort anschließen, wo Voigt damals aufhörte. Wobei die Bassdrum, die die Musik damals zusammenhielt, dieses Mal deutlich zurückgenommen ist und nur manchmal kurz anklingt. Die meiste Zeit morpht sich "Narkopop" durch Streichersätze, Hornmotive, manchmal einen Klavierlauf - immer gleich, immer wieder anders. Es gibt Augenblicke in diesen langen dunklen Klangströmen, in denen sich die Frage aufdrängt, was man da eigentlich gerade hört, wenn sich aus dunklem Klangnebel ein paar Waldhörner herausschälen, ihr Motiv ein paar Mal wiederholen und wieder verschwinden. Würde ein Klassik-Kenner die Melodieläufe aus einer Sinfonie erkennen? Oder haben sie sich in etwas ganz anderes verwandelt? Wie würde diese Musik klingen, wenn man sie aufschreiben würde und die Partitur dann einem Orchester vorlegte? Ginge das?
Die experimentelle elektronische Musik der euphorischen Neunziger ist im Allgemeinen nicht gut gealtert. Viele Alben, die damals wichtig schienen, hatten ihre Bedeutung nur im Kontext des damaligen elektronischen Aufbruchs, kartierten ein unbekanntes Gelände. GAS ist das rare Meisterwerk. "Narkopop" fügt ihm ein neues Kapitel hinzu. (9.0) Tobias Rapp
Actress - "AZD"
(Ninja Tune, seit 14. April)
Nach dem langen Marsch durch den Dunst und den Staub sterbender sozialer Landschaften ist Darren Jordan Cunningham alias Actress wieder im Club angekommen, wo er einst aufgebrochen war. Man dachte, dass sich der aus London stammende DJ und Experimental-Musiker nach seinem dystopischen Doppel "Hazyville" und "Ghettoville" komplett der Kunst widmen würde, doch nun überrascht er drei Jahre später mit dem reduzierten, sehr tanzbaren, aber nicht unbedingt anspruchsärmeren Album "AZD" (sprich: Acid).
Wie das Covermotiv suggeriert, geht hier Organisches Hand in Hand mit Artifiziellem, das Grundthema des Albums ist laut Künstler das Metall Chrom, ein Faszinosum deshalb, weil es wie ein Spiegel wirkt und dennoch durch seine Reflexions-Oberfläche harte Schwarzweiß-Kontraste herstellt. Cunningham sucht also nach seinen Streifzügen durch diverse Genres, von Techno bis Hip-Hop, die er allesamt zerhackte, zerbröselte und durch eine Trockenschleuder mit Wackersteinen schickte, immer noch nach sich selbst. Inspirationen wie der verstorbene New Yorker Graffiti- und Musik-Artist Rammellzee werden in Tracks wie "CYN" (NYC rückwärts) zitiert, "Faure in Chrome" nimmt das Requiem, Opus 48 des französischen Avantgarde-Komponisten Gabriel Fauré (1845 - 1924) und benadelt es mit elektrischen Statik- und Störgeräuschen.
Dieser Fuzz, ein weißes Hintergrundrauschen, bleibt das sonische Markenzeichen von Actress. Wie ein dünner Kalk- oder Pulverschleier weht es selbst über lebhafteste Tracks wie "X22RME", "Fantasynth" oder "Visa", deren Detroit-Techno-Nostalgie durch Kratz-, Schab- oder Knirsch-Filter verstärkt wird. So bleibt Actress, am imposantesten in "Dancing In The Smoke", stets neben dem eigentlich Clubgeschehen, ein Außenseiter zwischen zwei oder mehreren Floors, der seine Sensoren mal zum einen, mal zum anderen DJ ausrichtet, wie ein Horchposten im Äther. Manchmal ist bei diesen zu Mash-up, Collage oder Kakofonie neigenden Feldstudien auch ein Pop-DJ dabei, wie in "Runner" zu hören ist, wo sich ein markantes New-Order-Motiv unter einen dominanten House-Beat und dumpfes Stimmengewirr legt. Dann wiederum kann man ein Zigarettenblättchen fallen hören, wenn sich Cunningham in sphärische Jazz-Regionen flüchtet. ("Falling Rizlas"). Ein aufreizend undurchdringliches Science-Fiction-Club-Album für Dancefloor-Lurker oder das kommende VR-Zeitalter. (8.0) Andreas Borcholte
Tom Schilling & The Jazz Kids - "Vilnius"
(Embassy of Music, ab 21. April)
"Als Kind wollt' er immer mit dem Schiff zur See, was bleibt, ist ein Blick auf die Spree, René". Man könnte mit so einer Songzeile aus der "Ballade von René" einiges anstellen: Sie als Beleg nehmen für die zuweilen noch etwas linkische Poesie des nun auch singenden Schauspielers Tom Schilling - oder sie zur Metapher auf den Künstler umdeuten, der sich zum kühnen Freibeuter träumt, aber doch ein biederer Binnenschiffer bleibt. Aber so eine gereimte Songzeile klingt, aus dem Zusammenhang gerissen, immer komisch. Und "Vilnius", das erste Album von Schilling nach elf Jahren Werden, Wachsen und Hadern, ist gar nicht so übel, wie man zu ahnen meint, wenn einer von denen sich noch eine weitere Bühne sucht. Schilling ist kein Schweighöfer. Was auf der Leinwand gilt, gilt auch in der Musik. Der eine Selbstdarsteller und Luftikus, der andere Grübler und Method Actor.
Entsprechend kunstsinnig ist die äußere Gestaltung von "Vilnius": Gerhard Richters "Seestück (bewölkt) No. 235" verheißt Gedankenlast, der Titel deutet in osteuropäische Schwermut ohne inhaltlichen Bezug zu den Texten (die Hauptstadt Litauens ist schlicht ein schicksalhafter Ort für Schilling). Der Name "Jazz Kids" für die Band Major Minors, die Schilling am Set von "Oh Boy" kennen lernte, führt ebenfalls in die Irre: Gespielt wird kein Jazz, sondern ein romantisch rauer Chanson-Pop, der sich nach Brecht und Weill streckt und oft zu gediegen und brav bei Element Of Crime hängen bleibt.
Vorbilder und Kunst-Hypothek scheinen so schwer zu wiegen, dass sich des Schillings Stimme manchmal schüchterner und verzagter anhört, als die selbstgewiss im 3/4- oder 6/8-Takt voran drängende Musik es verlangt. Schilling kann nicht Heulen und Grollen wie sein Idol Nick Cave, er kann die Silben aber auch nicht im Dialekt zerdehnen und zernagen wie Sven Regener. Genau deshalb ist es gut, dass er, der Schauspieler, hier keine Mimikry versucht, sondern auf seine eigene Stimme vertraut. "Heute Nacht wird geputzt, damit nichts von dir bleibt", prahlt er mit toller Emphase ("GEPUTZT") in "Kein Liebeslied" - an eine Verflossene gerichtet, aber wohl auch an die hämischen Vergleiche, von denen er ja weiß, dass sie kommen.
In der Ballade "Ein Junge" oder in der Coverversion von Bettina Wegners "Kinder (Sind so kleine Hände)" klingt Schillings Stimme faszinierend effeminiert, nach sonoren Sängerinnen wie Alexandra oder Knef. Gefühlvolles zu singen, dazu gehört auch, Gefühle zu zeigen und sich nicht hinter kerligen Manierismen zu verstecken. Sich auf diese Weise auch als Sänger offen und verletzlich zu machen, das gelingt Schilling in den meisten seiner Songs so überzeugend wie im Kino. Allein die Regie von Produzent Moses Schneider (Beatsteaks, Tocotronic, AnnenMayKantereit) setzt bei diesem kleinen, mutigen Kammerspiel zu sehr auf großes Arthouse-Drama. (6.5) Andreas Borcholte
Korrektur: In einer früheren Version dieser Rezension hatten wir im Refrain des Songs "Ballade für René" irrigerweise ein "olé" herausgehört. Statt "olé" singt der Künstler jedoch "René", was ja auch viel mehr Sinn ergibt, und merkte uns gegenüber zu Recht an, er hätte ja schließlich kein Fußball-Lied geschrieben. Wir bitten den (Hör-)Fehler zu entschuldigen.
Maximo Park - "Risk To Exist"
(Cooking Vinyl, ab 21. April)
Mal gucken, was aus den Bands der "Class of 2005" geworden ist, einem der letzten, kurzen Aufbäumungen lauter, sozial interessierter Gitarrenmusik. Man nannte es, absurd genug, Post-Punk-Revival, obwohl das meiste nur dumpfer Indie-Rock war.
Maximo Park aus Newcastle verfügten auf ihren beiden ersten Alben "A Certain Trigger" (2005) und "Our Earthly Pleasures (2006) als eine von nur wenigen zeitgenössischen Bands über die nötige musikalische Dringlichkeit und den politischen Impetus, um diesem Label gerecht zu werden. Ihr verwinkelter, zwischen Rock, Pop, Reggae und Punk umherbolzender Sound und der theatralische Gesang von Paul Smith machte sie zu eklektizistischen Außenseitern, so wie ihre direkten Vorfahren Fischer-Z die nerdigen Randfiguren der coolen Klasse von 1979 waren.
Nach einer Reihe eher bedeutungsloser Alben und einigen Solo-Versuchen Smiths kehrt die Band nun mit einem erfrischten Ansatz zurück: "Risk To Exist", das darf man als Selbstgespräch einer Band verstehen, die es nach den Regeln des kurzlebigen Pop-Hypes gar nicht mehr geben dürfte.
Wilco-Produzent Tom Schick sorgte für ein weicheres, weniger schroffes Klangbild für Songs, die sich laut Smith um Empathie drehen. Dass es mit England zu Ende geht, hatten Maximo Park schon früh erkannt, unter anderem in Songs wie "The National Health" (2012) oder "Leave This Island" (2014). Jetzt geht es darum, zu retten, was an Zusammenhalt zu retten ist: "Do you wanna get high? No, I don't", erteilt Smith den Verheißungen des Populismus eine Absage zum vertraut pumpenden Funk-Bass.
Auch das Titelstück erinnert noch an "Apply Some Pressure" oder "By The Monument", Hits, für die Maximo Park vor einem Jahrzehnt gefeiert wurden. Doch auch hier markiert bereits eine seelenvoll gurgelnde Orgel die soft evolution der Band: Nicht mehr Clash oder Adam And The Ants, sondern Style Council und Blow Monkeys ziehen sich als Mittachtziger-Vorbilder durch Songs wie "The Hero" oder "What Equals Love?", der Soul der späten Thatcher-Jahre also.
Nicht alles sitzt bei diesem beherzten, manchmal auch linkisch verkitschten Fortschritt durch die sich ewig selbstverdauende Pop-Historie. Aber so nah bei sich selbst und am Zeitgeist waren Maximo Park lange nicht. (7.0) Andreas Borcholte
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)