Abgehört - neue Musik Ein kleines bisschen Horrorshow
Ho99o9 - "United States Of Horror"
(Caroline/Universal, ab 5. Mai)
Einen derart übergriffigen Auftritt hatte selbst das notorisch libertäre Berghain selten erlebt: Im August 2015 trat die US-Band Ho99o9 (gelesen: Horror) beim Pop-Kultur-Festival im Berliner Techno-Club zum ersten Mal live in Deutschland auf - und sorgte beim Publikum erst für Schockstarre, dann für respektvolle Begeisterung. In einer auf Überwältigung zielenden Lärm-Orgie aus aggressiven Hip-Hop-Beats und sich überdröhnenden Gitarren-Sounds verrenkten und wälzten sich die beiden jungen Afroamerikaner Eaddy und theOGM auf der Bühne. Ihre glänzenden Leiber, irgendwann nackt bis auf Boxer-Shorts, zuckten im Noise der Ekstase; es war, als wurde man Zeuge einer Kunstperformance zur immersiven Veranschaulichung der fast 500 Jahre währenden black experience in Amerika: eine Horrorshow.
Diverse EPs und Mixtapes später veröffentlicht das aus New Jersey stammende, inzwischen in L.A. lebende Duo nun sein Debüt-Album. "United States Of Horror", der Titel ist Programm: In einem guten Dutzend zumeist kurzer Tracks prügelt Wut und Frustration scheinbar ungefiltert auf den Zuhörer ein. Es geht um Polizeigewalt, um Machtmissbrauch von Behörden und Politikern, um Korruption und den Ku-Klux-Klan, um die Unterdrückerherrschaft von Mammon und Medien.
"War Is Hell", "Bleed War" oder "Street Power" heißen peitschenschlagartige, bedrohlich pulsierende Songs, in denen Ho99o9 aus den Kriegszonen ihres Alltags berichten: roh, laut, furios, kathartisch. Black Punk.
Eine politische Agenda hätten sie nicht, sagten sie in einem Interview: "Ho99o9 is not political at all. We just speak on what we see and what we know of, and we don't have that much money, so we don't talk about driving Benz's and fucking mansions. So we got to talk about the real shit that we see on the news and what we hear about and go through, through our lives. The things that people talk about. Reality."
Im Video zum Titeltrack sieht das dann so aus: Bandmitglied Eaddy wird, wie einst Tollschocker Alex in "Uhrwerk Orange", in einem Sessel vor einer Videowand gefesselt - und muss sich ein Epilepsie triggerndes Best-of amerikanischer Abgründigkeit ansehen: Klan-Aufmärsche, brennende Kreuze, alte weiße Männer, die an ihren Hausfassaden die Hakenkreuz-Flagge neben dem Sternenbanner hissen, tödliche Polizeikontrollen, Arier-Kundgebungen mit zum Hitlergruß gereckten Armen, Donald Trump. Der Text dazu will dann doch mehr als nur abbilden, es wird agitiert: "If you stand for something, put your fist in the air ( ) If you want peace, you better be ready for war (...) We live in hell, but you gonna let them now you ain't takin' no shit" - Ihr lebt zwar in der Hölle, aber Ihr lasst Euch deswegen noch lange nicht alles gefallen.
Eine solche Kampfansage hat es in der schwarzen Musik lange nicht gegeben. Sie unterscheidet sich schon allein deshalb fundamental von nicht minder dringlichen Zustandsbeschreibungen und Blackness-Beschwörungen, die Kendrick Lamar, A Tribe Called Quest, Run The Jewels oder Solange in jüngster Zeit veröffentlicht haben: Sie überschreitet nicht nur performativ und textlich, sondern auch musikalisch Grenzen.
Indem Ho99o9 ihr originäres Genre, Hip-Hop und Rap verlassen, brechen sie aus dem popkulturellen Getto aus, außerhalb dessen sich die weiße Mehrheitsgesellschaft sicher und dominant fühlt. Wie einst Death, Bad Brains oder später Body Count ("Cop Killer") ermächtigen sich Ho99o9 mit ihrem wütenden Punkrock eines Genres, das gemeinhin als Frustventil weißer Musiker gilt und ungeheure Energien entfachen kann. Das macht dieses unbarmherzige, ungestüme Album zu einer Attacke auf die Verhältnisse, die das Potential hat, Filterblasen und medial errichtete Gesellschaftsbarrieren zu durchbrechen. There's a riot going on. (9.0) Andreas Borcholte
Sophia Kennedy - "Sophia Kennedy"
(Pampa Records, seit 28. April)
Wegen ihres Rechtsdralls hat die Gegenwart gerade einen schlechten Ruf. Zu ihrer Verteidigung muss man aber sagen: Eine so tolle Platte wie das Debütalbum von Sophia Kennedy hätte es zu keiner anderen Zeit geben können.
Das selbstbetitelte Werk, das auf DJ Kozes legendärem Label Pampa Records erscheint und als "das erste Songwriting-Album" des Imprints beworben wird, baut auf einem halben Jahrhundert weiblicher Musikgeschichte auf - von Nicos Theatralik über Jenny Wilsons Intensität bis zur Verspieltheit der Tune-Yards - doch kommt es mit seiner detaillierten Produktion ganz und gar in der Gegenwart an.
Zusammen mit Pampa-Stammkraft Mense Reents ("Die Vögel", "Egoexpress") als Produzenten hat Kennedy ihren Songs genau die richtige Dosis an Frickelei verpasst: Die disparaten Elemente werden nicht vermengt, sondern zu exakten Klangpuzzeln zusammengesetzt. Im Auftaktstück "Build Me A House" sind das etwa ein mit hartem Anschlag gespieltes House-Piano und Löffelpercussion, in "Something Is Coming My Way" ein Maultrommel-Loop und ein geisterhafter Frauenchor.
In "Baltimore", der songlichen Referenz an Kennedys Geburtsstadt, die sie mit ihrer Mutter einst als Zehnjährige verließ, um in die Nähe von Göttingen zu ziehen, sind schließlich ihre US-amerikanischen Großeltern in einem Dialogfetzen zu hören - womöglich eine Anspielung an die aktuellen Alben der Knowles-Schwestern Beyoncé und Solange, die ebenfalls viel mit Textinterludien arbeiten. Statt mit einer Lebensweisheit sind die senior citizens hier jedoch mit einem herrlichen Missverständnis in Sachen deutscher Kultur verewigt.
Verbunden und zusammengehalten wird das alles durch Kennedys klangvoll-tiefe Stimme, die in Kombination mit einem Doo-Wop-Chor mitunter in glorreiche Schwärmerei abhebt, um sodann wieder in den gestrengen Vortragsmodus zu wechseln. Über elf Songs schafft Sophia Kennedy so eine Soundscape, die dramatisch und leichtfüßig zugleich erscheint. Ein Album für Ausdruckstanz und laue Sommernächte. (8.6) Hannah Pilarczyk
Fishbach - "Un autre que moi" EP
(Les disques Enterprise, ab 12. Mai)
Und schon liegen wieder alle der jungen Französin zu Füßen. Flora Fishbach, eine 25 Jahre alte Sängerin aus Paris, hat im vergangenen Jahr erst die französische Pop-Presse elektrisiert, später dann, mit einem extravaganten Auftritt beim Berliner Pop-Kultur-Festival, auch Teile der hiesigen. Während ihr Debüt-Album "À ta merci" in ihrer Heimat bereits im Januar veröffentlicht wurde, müssen deutsche Frankophile zunächst mit den vier Songs dieser EP vorliebnehmen - ein Testballon, ob der Import aus dem Nachbarland seinem Hype standhält.
Die Chancen stehen traditionell schlecht. Abgesehen von der eher rustikalen Zaz und der auch als Schauspielerin bekannten Charlotte Gainsbourg wird und wurde die reichhaltige französische Szene hierzulande auch in jüngster Zeit größtenteils ignoriert. Quel dommage!
Wird mit Fishbach alles anders? Fishbachs Pop-Hybrid aus kühlen Achtziger-Sounds, ein bisschen Psychedelic und romantischer Eskapismus-Lyrik betört vor allem durch die Performance der Sängerin, die niemals lächelt, dafür aber beim Singen gerne eine sorgenvolle Schnute zieht oder exaltiert grimassiert.
Charmant also, aber nicht süß, sondern herb - wie vor ihr schon Guesch Patti, Camille oder Claudie Fritsch-Mentrop, die als burschikose Desireless mit "Voyage Voyage" in den Achtzigerjahren auch die deutschen Charts eroberte. An diese Vorbilder knüpft Fishbach eher nicht an, wenn sie sieben tollkühne Minuten lang auf kaltstarren Synthie-Rhythmen und Sphärenklängen über die Auflösung des Universums meditiert ("Invisible desintegration de l'univers").
Dann schon eher mit dem unterkühlten, aber schwungvollen La-Isla-Bonita-Derivat "Un autre que moi" ("Jemand anders als ich"). Schöner als mit diesem sechsminütigen mal au coeur kann man sich nicht von der crise européenne ablenken. Wobei "Liebeskummer" auf Französisch ja auch "Mir ist übel" bedeuten kann. (7.0) Andreas Borcholte
Slowdive - "Slowdive"
(Dead Oceans/Cargo, ab 5. Mai)
Ist's denn schon wieder Zeit, den Kopf hängen zu lassen? Jene Bands, die zu Beginn der Neunziger von der britischen Presse mit dem beschmunzelnden Label "Shoegaze" belegt wurden, konnten nichts dafür, dass ihnen fortan der Ruch des allzu Verträumten und Narzisstischen nachhing. Grunge und Britpop fegten das Genre ab 1994 mit revisionistischem Lärm so schnell wieder davon, wie es zuvor gehätschelt und zelebriert wurde. Slowdive, eine fünfköpfige Band aus Reading, veröffentlichte damals gerade ihr drittes Album "Pygmalion" - und wurde von der Kritik zerfetzt. Achterbahn Pop: Ein Jahr zuvor war der Jubel über Slowdives Album "Souvlaki" nahezu einhellig gewesen. Es gilt bis heute als eines der definierenden Shoegaze-Alben.
Slowdive aber lösten sich 1995 auf, nachdem sie von Alan McGees legendärem Label Creation fallengelassen wurden. 2014 taten sie sich unter Federführung des Songwriting-Duos Neil Halstead und Rachel Goswell erneut für Live-Auftritte zusammen. Und nun erscheint, 22 Jahre nach der letzten Veröffentlichung, ein triumphales Comeback unter völlig veränderten Vorzeichen.
Denn manchmal muss man einfach nur lange genug ausharren, bis sich der Zeitgeist ein-, zweimal selbst verzehrt und verdaut hat. Spätestens seit Anfang der Nullerjahre ist der wabernde, mit reichlich Gitarren-Hall, Ambient-Geraschel und ins Soundbad versenktem Gesang durch Bands wie Beach House, M83 oder Crystal Castles wieder popularisiert worden. Original-Shoegazer wie Ride, My Bloody Valentine und zuletzt The Jesus And Mary Chain gehen erfolgreich auf Reunion-Tournee.
Und nun also auch Slowdive, die im Großen und Ganzen immer noch so klingen, als hätten die letzten 20 Jahre Pop und Historie nicht stattgefunden. Man könnte dieses Album also, analog zur umwölkenden Musik, die gespielt wird, als Nostalgie-Wattebäuschen für all jene betrachten, denen es zu anstrengend geworden ist, neueren Pop-Strömungen und Genres zu folgen. Könnte man. Wenn "Slowdive" solche Häme nicht durch pure Erhabenheit entkräften würde.
Vom kristallinen Opener "Slomo", der die Gesetze der Zeit für die nächste Dreiviertelstunde in hell rauschender Statik auflöst, über den durch weiche Luftkissen karriolenden Hit "Star Roving", die an Prefab Sprout und China Crisis erinnernde Pop-Ballade "Sugar For The Pill" und das mit Verve- auftrumpfende "No Longer Making Time" bis hin zur pianoklimpernden Coda "Falling Ashes": "Slowdive" bietet die brillante, konzentriert und souverän dargebotene Essenz einer Band, die zu früh vom Platz gestellt wurde. Sie kehrt erhobenen Hauptes zurück. (8.0) Andreas Borcholte
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)