Abgehört Die wichtigste Musik der Woche
Ja, Panik - "LIBERTATIA"
(Staatsakt/Rough Trade, ab 31. Januar)
"Kunst kann dir höchstens das Gefühl geben, etwas ändern zu wollen, wirklich etwas ändern kannst du aber nur auf der Straße oder in anderen politischen Räumen. Und eben nicht, indem ich in einem kleinen Kellerclub: ,I am an antichrist, I am an anarchist' singe. So bleibt die Frage, ob es den Herrschenden nicht lieber ist, dass in kleinen, verrauchten Clubs ein paar Musiker singen, dass sie alles zerstören wollen, statt auf die Straße zu gehen." Das sagte Andreas Spechtl im Herbst 2011 der "taz". Zuvor war mit "DMD KIU LIT" das bis dato beste und definitivste Album seiner Band Ja, Panik erschienen, es war gleichzeitig das beste und wichtigste deutschsprachige Album seit langem. Wie macht man nach so einer Selbstenthebung weiter? Wie kann man seine Existenz als politisch engagierter Musiker rechtfertigen, wenn man gerade selbst, im viertelstündigen Schlussstück, das mit nichts anderem als minutenlanger Stille enden konnte, sein eigenes und alles Pop-Tun ins Reich der Vergeblichkeit verwiesen hat? Im Nachgang ihres bisher größten Erfolgs (12.000 verkaufte Platten, Platz 82 in den Charts) schien alles, auch der Kampf, vorbei. Zwei Bandmitglieder gaben auf, Spechtl trat vereinzelt alleine auf oder spielte Gitarre bei den Türen, der Band seines Labelchefs Maurice Summen.
Doch nun kehren Ja, Panik unverhofft mit "LIBERTATIA" zurück, und ja: Die Versalien sind Programm. Zum Trio geschrumpft, vom diskursiven Ballast befreit, spielt die Band geradezu erleichtert auf. Irgendwann in den dunklen Monaten nach "DMD KIU LIT" stieß Spechtl auf das 1724 veröffentlichte, lange vergessene Buch "A General History Of The Robberies And Murders Of The Most Notorious Pyrates", das gemeinhin dem Robinson-Crusoe-Autor Daniel Defoe zugeschrieben wird, der sich angeblich hinter dem Pseudonym des Autors Captain Charles Johnson verbergen soll. Nacherzählt werden darin die Biografien zahlreicher Seeräuber, die Anarchisten früherer Zeiten, die in der Südsee alternative Lebensformen suchten und fanden. Zum Beispiel am Nordzipfel Madagaskars, wo Ende des 17. Jahrhunderts das utopisch-egalitäre Reich "Libertatia" entstanden sein soll, eine Art prä-sozialistisches Schlaraffenland unter tropischer Sonne. Spechtl war elektrisiert: So ein Land kann man in der grauen Berliner Republik nicht real erschaffen, wusste er, schon gar nicht, siehe oben, als Rockmusiker. Aber was, wenn man LIBERTATIA zum Sehnsuchtsort der Seele werden lässt?
Irgendwann in dieser Zeit muss dann der Refrain des Titelsongs entstanden sein: "Wo wir sind, ist immer LIBERTATIA ( ), denn wo wir stehen, könnt' immer alles sein." Die Erschaffung einer inneren Oase, wenn die Revolution an der Realität verdurstet. Entsprechend eskapistisch, wenn nicht fröhlich, klingt die neue Musik von Ja, Panik: Die Stones- und Dylan-Referenzen, auch der letzte verbliebene Punkrock-Rest wichen einem beschwingten Hedonisten-Pop mit viel Funk-Bass, Saxophon- und Synthie-Einsatz, der nun eher Vorbilder wie Scritti Politti, Aztec Camera, Prefab Sprout und späte Roxy Music zitiert. Wo noch vor Jahresfrist am Ende von Konzerten dröhnend "Cop Killer" von Body Count gegeben wurde, werden in "ACAB" nun mit feiner Ironie linke Kampfparolen demontiert: Nicht "All Cops Are Bastards" meint Spechtl, sondern "All Cats Are Beautiful" - und entlarvt den Agitpop als Liebeslied.
Dennoch ist "LIBERTATIA" keine Kapitulation. Im bewährten Deutsch-Englisch-Gemisch hat Spechtl noch immer viel über die Oberflächlichkeiten zu sagen, die ihm vor allem in der Parolen-Hauptstadt Berlin jede Nacht begegnen: "Diese Bar ist eine Schlucht/ Und das Wasser, das hier fließt, hat einen bitteren Geruch/ Irgendein zugedröhnter Depp/ Spricht irgendwas vom working man, dessen life und dessen death/ Ich denke mir, schau dass du abhaust/ Denn mein Argument wär' jetzt eigentlich nur noch die Faust", singt er in "Post Shaky Time Sadness", einem der vergiftetsten Tanzstücke. Die auf dem Cover ausgemalte Utopie vom Eiland LIBERTATIA spiegelt er mit der bröckelnden Idee Europas in "Dance The ECB", eine beschwingte, aber bitterböse Aufforderung zum Tanz der Staatsfinanzen: "Shake the government, shake its fucking police." Auch in den stärksten Songs, den Balladen "Eigentlich wissen es alle" und "Alles leer", gibt es dieses Motiv vom Tanz auf dem Vulkan, diese unbequeme Vorabendstimmung, die alles bedeuten kann: Revolution, Apokalypse oder auch nur einen schlimmen Kater nach einer sinnlos durchzechten Neuköllner Nacht. "LIBERTATIA ist der Look of Love wenn die Nacht am tiefsten", heißt es im Album-Manifest auf der Website der Band mit Bezügen zu Burt Bacharach und Ton Steine Scherben. Zwischen diesen gegensätzlichen Polen des Pop finden Ja, Panik in Melancholie und Schönheit vorerst Erlösung vom Dilemma des mündigen Künstlers. (9.1) Andreas Borcholte
Andreas Dorau - "Aus der Bibliothèque"
(Bureau B/Indigo, seit 17. Januar)
"Ein Führerschein hat mich nie interessiert/ Ich hätt die Regeln eh nie kapiert/ Ich sitz einfach gern im beigen Wagen/ Nenn mein Ziel und brauche sonst nichts zu sagen/ Faul und bequem/ Weshalb ich stets ein Taxi nehm/ Denn ich bin faul und bequem/ Auch wenn ich mich ein bisschen schäm." Und außerdem: "Ein eigenes Auto ist genauso teuer!". Die Zeilen könnten von mir stammen, der Song natürlich nicht, mir fällt ja nicht mal ein, woher man die Hookline nochmal kennt, denn Frankie Vallis "Can't Take My Eyes Off You" ist es ja auch nicht. Andreas Doraus Grillen, seine Exaltiertheiten und die komische Logik - mir leuchtet absolut ein, wie man so leben, dichten und wirken kann, auch wenn man sich bei Dorau ständig erklären muss: "Wie kannst du das ernst nehmen?" Ganz einfach: Dorau behandelt interessante Themen auf eine Art und Weise, die auch wir einfachen Menschen verstehen (dass "Aus der Bibliothèque" nicht in den Büros der beliebtesten deutschen Headhunter-Firmen laufen wird, ist mir auch klar): Ein Song mit dem Titel "Reden wir von mir" war überfällig, die endlose Folter des Alltags ("Der Monat") bleibt auch für Dorau ein stetiges Ärgernis ("Mo, Di, Mi, Do, Frrrr, Sa, So - Ich fürchte, das bleibt den ganzen Monat noch so"), und "Stählerner Adler" empfinde ich als einen besonders achtsamen, seltsam ungewöhnlichen Liebesgruß an eines der stolzesten Tiere. Dass "Wasserstoff" wie "Wolf Like Me" von TV On The Radio beginnt und "Hard To Explain" von den Strokes zitiert, würde Dorau eher bestreiten, nicht aber, dass der Geisterchor aus "Klischee" damals schon für Alice Coopers "School's Out" bezahlt wurde. Gleichzeitig zur launigen, geistreichen, "unbequemen" (Bundesagentur für Arbeit) neuen Studioplatte erscheint bei Bureau B auch "Hauptsache Ich", die umfassende Werkschau zum 50. Geburtstag des alten Kindes, auf einer Doppel-CD: Mit "Fred vom Jupiter", "Girls In Love" und "Demokratie". Was Mädchen und Jungen wissen sollten: Jetzt in ihrer Leihbibliothek. (7.2) Jan Wigger
Bohren & Der Club of Gore - "Piano Nights"
(Play It Again Sam/Rough Trade, ab 24. Januar)
"Horror-Jazz" nannte man die Musik von Bohren & Der Club of Gore einst, aus Hilflosigkeit natürlich. Gruselig ist allerdings das Jugendbild von Ur-Bohrer Morten Gaß auf dem Cover der neuen LP: dieser Pulli! Die Haare! Da kriegt der lasziv-schwüle Titel "Piano Nights" so richtig schwarzweiß und käsig eins in die Fresse, bevor überhaupt ein Ton erklungen ist. Man unterschätze nie den Humor dieser Mülheimer, nie! Und sowieso ist das Piano hier kein Konzertflügel, sondern ein schnödes Yamaha-Klavier - und es spielt bei weitem nicht die prominente Rolle, die ihm qua Titel zugewiesen wird. Es wird ja fast ein bisschen langweilig, die Musik von Bohren & Der Club of Gore immer und immer wieder gegen den Vorwurf der prätentiös verkappten Langeweile zu verteidigen, und ganz ehrlich: Jetzt mit dem ewigen Argument zu kommen, diese Zeitlupen-Musik sei ein Statement gegen die Schnelllebigkeit unserer Zeit, ist mir zu billig. Zumal "Gore Hotel", das noch sehr doomige Debüt der Band, bereits 1994 erschien, als wir noch gar nicht ahnten, wie schnelllebig alles werden würde. Nein, Morten Gaß und seine Jungs forschen danach, wie groß der Imaginationsraum sein kann, den ein einzelner Klang erzeugen kann: Mellotron, Vibraphon, Saxophon, behutsam gestrichenes Becken oder eben getupftes Piano. Hier könnte die Parodie eines Noir-Thrillers die Grundidee sein, zumindest sprechen Titel wie "Im Rauch", "Unrasiert", "Fahr zur Hölle" und "Verloren (Alles)" diese Sprache. Aber wie die Femme Fatale, die harten Kerle wie Alan Ladd und Robert Mitchum ganz weich und wuschig macht, entzieht sich auch die Musik des Gore-Club dem Zugriff und der Deutung. Wie das Endstück suggeriert, es heißt "Komm zurück zu mir", weiß man erst, wenn der letzte dieser endlos ausgekosteten Akkorde verklungen ist, was einem da so unmerklich unentbehrlich geworden ist. Für Menschen, die Adel Tawils "Lieder" für den Höhepunkt emotionaler "Mucke" halten, bleibt's natürlich für immer Horror-Jazz. (7.5) Andreas Borcholte
Michael Yonkers - "Michael Lee Yonkers" & "Borders Of My Mind" (Re-Issues)
(Drag City/Rough Trade, ab 7. Februar, nur Vinyl)
Klar, es gibt Jonathan Halter und Diane Hildebrand, aber auch etwas bekanntere "obskure" Künstler wie Bob Lind, Jim Sullivan, Bobby Cole, Bill Fay und natürlich Roky Erickson. Kennen wir alles, haben wir gehört, gelebt und verdaut, weil der Rest da draußen eben oft so langweilig und offensichtlich war. Aber Michael Yonkers, Leute, hatte ich - falls ich ihn denn überhaupt jemals gekannt haben sollte - schon wieder vergessen. Vor über zehn Jahren wurde Yonkers' vielleicht wichtigste LP "Microminiature Love" von Sub Pop und De Stjil wiederveröffentlicht. Weniger geläufig ist, dass Yonkers seine Verzerrer und den heulenden, belfernden Gesang für mehrere Gelegenheiten beiseite stellte, um selbstgemachte, geheimnisumrankte und sehr ruhige Folk-Platten mit einfachsten Mitteln aufzunehmen. "Goodbye Sunball", "Grimwood" und "Lovely Gold" wurden bereits erneut herausgebracht, nun folgen via Drag City "Michael Lee Yonkers" und "Borders Of My Mind". Ersteres nahm Yonkers in den Jahren 1971 und 1972 zu Hause auf, während er in einem einhundert Jahre alten Warenhaus den Gabelstapler bediente und für die Firma auch den Lastwagen fuhr. Weil seine Arbeitskollegen fast ausschließlich Country & Western hörten, spielte der Mann aus Minneapolis an den Wochenenden und auf Hauspartys Musik in ähnlichem Stil, etwas verwaschen und in der Zeit gefangen, aber auch sehr klar und anrührend: "Please be with me when I reach the end." 1973 erschien "Borders Of My Mind", eingespielt im Wohnzimmer von Jim Woehrle, mit dem Yonkers bei Michael And The Mumbles und der Michael Yonkers Band zusammenspielte. Wer seine Villa nach zufällig hinter die Schränke gefallenen, alten Münzen absucht, wird "Place Called Home" und "Lonely Children" die Freundschaft erklären. "Michael Lee Yonkers" (7.3), "Borders Of My Mind" (7.4) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)
