Abgehört - neue Musik Kuchen haben und ihn auch essen
Lily Allen - "No Shame"
(Warner, seit 8. Juni)
Fünf Stunden pro Tag hat sich Lily Allen nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahren auf Twitter aufgehalten. Kein Wunder, dass sie vier Jahre brauchte, um einen Nachfolger für ihr durchwachsenes Album "Sheezus" hinzukriegen - würde man meinen. Aber bei Allen liegen die Dinge immer etwas anders als erwartet. In den vergangenen vier Jahren hat die Britin nämlich auch zwei kleine Kinder erzogen, die Verfolgung durch einen Stalker überstanden und sich scheiden lassen. Schon weniger verwunderlich, wenn es dann mit dem nächsten Album etwas länger dauert - aber umso überraschender, wie gut es geworden ist.
"No Shame" hat den Umgang mit den öffentlichen Erwartungen an Allen als junge Frau und Mutter im Popgeschäft zum Thema. "I am a bad mother/ I am a bad wife/ You saw it on the socials/ You read it online", geht Allen im ersten Song "Come on then" in die Offensive. Doch dann folgt der Nachtrag: "If you go on record/ Saying that you know me/ How come I'm so lonely/ Because nobody fucking phones me". Textlich so stark wie der Rest des Albums flirrt "Come on then" musikalisch noch etwas ziellos durch die Gegend. Das passiert Allen und ihren Produzenten, darunter BloodPop, Ezra Koenig und Mark Ronson, in der Folge nicht mehr. Ganz auf Allens glasklare Stimme ausgerichtet, erreicht "No Shame" eine Geschlossenheit, die man von zeitgenössischen Popalben kaum mehr kennt: Keine atemlose Abfolge von bliss points und disparaten Hooks, sondern sorgsam komponierte Midtempo-Lieder, die ihre Texturen und Rhythmen klug variieren, mal Dubstep-Bässe einen Track grundieren lassen, mal Steel Drums für ein zartes Hintergrundmotiv einsetzen.
Zusammen mit den Features von Diggs, Burna Boy und Lady Chann findet Allen so zu dem lässig-urbanen Einflussreichtum zurück, der bereits ihr Debütalbum "Alright, Still" von 2006 auszeichnete. So viel Charakter in der Musik steht den Texten nicht entgegen. In "Everything to Feel Something" singt Allen mit sanfter Bestürzung davon, wie sie ihren persönlichen Tiefpunkt samt Drogenproblemen und sinnlosen Affären durchlebt. Dass "No Shame" danach eine Kehrtwende in Richtung Lebensfreude und neue Liebe ("Pushing Up Daisies") macht, überrumpelt ein wenig. Doch selbst das weiß Allen mitzuverhandeln: Der abschließende Track "Cake" feiert das scheinbar Unversöhnliche, das "Kuchen haben und ihn auch essen". So könnte man auch umschreiben, was Allen auf "No Shame" gelingt: Sie greift die öffentlichen Urteile über sich nicht nur auf, sondern macht aus ihnen den Stoff für das beste Album ihrer Karriere. (8.2) Hannah Pilarczyk
Kids See Ghosts - "Kids See Ghosts"
(G.O.O.D. Music/Def Jam, seit 8. Juni)
Keine Woche ohne Kanye West: Hinter Kids See Ghosts verbirgt sich die Kollaboration der inzwischen sehr vertraut miteinander umgehenden Rap-Kumpels Kanye und Kid Cudi. Es ist das dritte Album einer Reihe von West auf seinem eigenen Label veröffentlichten Mini-Alben: Zuvor erschienen bereits Pusha-Ts "Daytona" und Kanyes "Ye", in den kommenden Wochen sollen noch Alben von Nas und Teyana Taylor folgen, alle um die 20 Minuten lang. Insgesamt wird man am Ende also 100 Minuten neue Musik aus dem Kanye-Kosmos haben, was dann schon wieder eine Ansage an alle Konkurrenten (Migos, Rae Sremmurd, etc.) ist, die in letzter Zeit gerne mal 80 Minuten raushauen, allerdings ermüdenderweise am Stück. Dann lieber Kanye, die Serie.
Nach dem musikalisch schwachen "Ye" ist "Kids See Ghosts" die bisher interessanteste (und berührendste) Episode der Reihe. Kanye und Cudi exorzieren mit düsteren, psychedelischen Beats und Sounds und einer tatsächlich geisterhaften Atmosphäre ihre jeweiligen Probleme der letzten Jahre: West seine zuletzt öffentlich gemachte bipolare Störung, der immer etwas bedröhnt klingende Rapper aus Cleveland seine langjährige Drogen- und Alkoholsucht. In ihrer gegenseitigen Beschwörung, sich nun wie neugeboren zu fühlen, gelingen den beiden einige der besten Tracks ihrer Karrieren. Zum Beispiel in der seelenvollen Autotune-Ballade "Reborn" (die an Kanye und Cudis erste Zusammenarbeit auf "808s & Heartbreak" erinnert), wenn West im Bekenntnismodus rappt: "I was off the chain, I was often drained/ I was off my meds, I was called insane/ What an awesome thing, engulfed in shame". Cudi singt (!) dazu den Refrain: "Ain't no stress on me, Lord/ I'm moving forward".
Welche Dämonen die beiden umtreiben, lässt sich nur erahnen, wenn man dem hysterisch gepitchten Geschrei auf "4th Dimension" lauscht, das vom Druck der Öffentlichkeit handelt - und von einem irren Weihnachtssong-Sample von Louis Prima durchwirkt ist. An den Heavy-Gospel-Blues des "Ye"-Höhepunkts "Ghost Town" schließt "Freeee (Ghost Town Pt. 2)" an, das mit seinen markigen Synthie-Gitarren fast wie eine Jack-White-Nummer wirkt. Die Rock-Nähe kommt auch im selbstermutigenden "Cudi Montage" zum Tragen, Cudis bestem Moment auf dem Album. Es basiert auf einem Homerecording-Gitarrensample von Kurt Cobain.
Schlüsselstück ist jedoch der Titeltrack, der nicht nur Kanyes besten Reim-Flow seit langem und einen suggestiven Hook (von Gast Yasiin Bey alias Mos Def) enthält, sondern auch das Eingeständnis zweier Großmäuler, dass sie von der eigenen Hybris, Ego-Verblendungen und politischen Irrungen manchmal ganz schön humbled sind. Der Held dieser Therapie-Session ist Kid Cudi, dessen inspirierender und beruhigender Einfluss auf den unberechenbaren West als Freund und Kollege hier erstmals - und sehr eindrucksvoll - deutlich wird. "Peace is something that starts with me", versichert er Kanye (und sich selbst) in "Reborn". Tom Sawyer und Huck Finn des Hip-Hop. (9.0) Andreas Borcholte
Snail Mail - "Lush"
(Matador/Beggars, seit 8. Juni)
Gerade Montagabend beim Berliner Konzert der großartigen Courtney Barnett wieder gedacht (und gespürt): Die Zukunft des Indie-Rocks, so es denn eine gibt, ist weiblich. Auch Lindsey Jordan ist - wie Barnett, Lucy Dacus oder Soccer Mommy - eine junge Frau, die Ängste, Wut und Frustrationen in selbstbewusste, bemerkenswert straighte Rocksounds ohne verschwiemelte Lärmwolken gießt. "Lush", das Debüt der 18-Jährigen aus Baltimore, ist nicht so rau und zornig, wie man es von einem Teenager erwarten würde, seine Kraft schöpft es eher aus der Klarheit und Midtempo-Souveränität, mit der Jordan ihre sarkastischen Breakup-Songs vorträgt und vertont hat. Zu ihren erklärten Vorbildern gehören Mary Timony (Helium, Wild Flag), bei der sie Gitarrenunterricht hatte, sowie Katie Crutchfield alias Waxahatchee. Das Grundmotiv der Snail-Mail-Songs ist also Neunzigerjahre-Indie aus den USA und ein sanfter Emo-Appeal ohne Hardcore-Entladungen. Das klingt zuweilen folglich sehr retro. Auch Liz Phair, Juliana Hatfield, Nada Surf, Sonic Youth und Pavement geistern hier mal mehr, mal weniger deutlich zitiert durch Jordans traurig-träge Klage-Kompositionen: Ihren eigenen Sound hat sie noch nicht gefunden, aber das ist verzeihbar.
Denn weiser und zugleich anrührender wurde dieses zuletzt obsolete Genre lange nicht bedient. Ob Jordan sich in drückender "Heat Wave" ans Ende ihres Herzschmerzes träumt und am Ende seufzt: "I'm not into sometimes"; ob sie in "Pristine" noch behauptet "I'll never love anyone else", dann aber später, im forschen "Golden Dream" patzt: "I'm not yours" - all das sind mitreißende, kleine Hymnen an die eigene Selbstbehauptung: "I'm in full control/ I'm not lost/ Even when it's love" singt Jordan in "Full Control". Man glaubt ihr jedes Wort - und kann die Fortsetzung kaum erwarten. (7.9) Andreas Borcholte
Kolars - "Kolars"
(Clouds Hill, seit 8. Juni)
Frau an den Drums, Mann an der Gitarre, da spricht man gerne von Rock'n'Roll-Minimalismus. Aber dieser Begriff ist bei dem kalifornischen Zwei-Personen-Ensemble Kolars völlig unangemessen. Lauren Brown und Rob Kolar, die vorher schon bei der vielköpfigen Burlesk-Folk-Formation He's My Brother She's My Sister gemeinsam auftraten, haben vor allem deshalb alle Mitmusiker von der Bühne und aus dem Studio geräumt, weil sie sich auf diese Weise umso raumgreifender und eigenwilliger als jeweils eigene Klangkörper in Szene setzen können.
Kolar macht den Rockabilly-Eintänzer und twerkt und twistet zwischen den Effektgeräten hin- und her, um die kantigen Riffs in watteweiche, zuweilen orchestral hallende Loops zu verwandeln. Brown steppt mit entsprechendem Schuhwerk auf einer umgestülpten Bass-Drum, während sie in Tanztheater-Manier ihr Stand-up-Kit klöppelt, schlägelt, gelegentlich auch windelweich schlägt.
Man stellt sich vor, wie sich die Ehepartner Brown und Kolar im Studio zuraunen: Schatz, ich brauch mehr Raum für mich. Und sich diesen dann auch gegenseitig gewähren. Oder dem anderen einfach abtrotzen. Für ihre Auftritte schmeißen sich die beiden in Pailletten-Fummel und sprühen sich mit Glitzer-Spray ein, ein süßes durchgeknalltes Pärchen, dass seinen Ehe-Wahnsinn in überzuckerte Melodien kleidet.
In den besten Momenten ihres ersten, kurzen, selbstbetitelten Albums erinnern Kolars ein wenig an "Dream Baby Dream" von Suicide, dem nihilistisch umflorten Traum-Popsong von der Mutter aller elektroinfizierten Rockabilly-Duos. Gleich am Anfang fordern Kolars "One More Thrill", also die Wiederholung eines Glücksmoments, der doch eigentlich schon vorbei ist und deshalb in die Ewigkeit geloopt wird. Danach käme sonst nur der Tod. Der Song ist Auftakt einer Paartherapie, in der das Verlangen und die Vergeblichkeit allen Verlangens zu schönsten Shake-it-Baby-Gesängen und schwülstigen Gitarren-Tremolos thematisiert wird.
Man kann die Musik von Kolars Step-Punk, Lametta-Billy oder Bubblegum-Psychedelia nennen. Auf der Bühne ist das sehr sexy, beim Hören der Platte wird's einem ganz warm ums traurige Herz. (7.8) Christian Buß
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)